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Achtsamkeit - Die Kunst der Pause


Innehalten, ganz zu sich kommen - sich dem Nichtwissen aussetzen, nicht gleich reagieren - das sind Grundhaltungen der Achtsamkeit.

Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.

Dieses Zitat von Viktor Frankl deutet darauf hin, womit uns Achtsamkeit verbindet. Über diesen Raum zwischen Reiz und Reaktion möchte ich heute schreiben.

Achtsam durch einen Konflikt gehen

Wenn wir in Konflikt geraten, wird es schnell emotional. Unser Atem geht schneller. Es fühlt sich unangenehm an. Und wir wollen raus aus der Situation. Entweder durch Abgrenzung oder Flucht. Im Konflikt verlieren wir die Fähigkeit den Standpunkt des anderen wirklich verstehen zu wollen.

Kaum sind wir emotional getriggert, reagieren wir sehr schnell - wie in einem Kampf, indem wir einen Schlag kriegen, und schnell zurückschlagen - aus der unmittelbaren Reaktion heraus.

Ist diese Reaktion immer eine gute Antwort auf die Situation? Löst sie den Konflikt? Oder setzt sie ihn fort? Wie geht es mir nach so einem Konflikt? Wie schaue ich auf mein eigenes Handeln?

Oft stelle ich nachher fest, daß es in der Situation einen besseren Weg gegeben hätte - eine bessere Antwort. Jetzt, wo ich mich wieder beruhigt habe. Und genau darin liegt eine wichtige Erkenntnis. In mir ist eine bessere Antwort als die, die in der Emotionalität des Augenblicks gleich reagiert.

In der Achtsamkeit übt man sich darin, sich im Konflikt anders zu verhalten. Darin, den Raum zwischen Reiz und Reaktion zu erweitern. Im Fall des Konflikts mit einem anderen Menschen besteht diese Übung anfangs darin, sich in der Situation mit seinem Atem zu verbinden, um sich zu beruhigen. Wir sind in Konfliktsituationen oft sehr schnell von Emotionen wie Wut oder Angst besetzt, die uns blind machen für den anderen - aber auch für andere Gefühle in uns, die gleichzeitig existieren.

Damit, daß ich mit meinem Atem in Beziehung gehe, komme ich wieder zu mir. Es ist eine emotionale Selbstregulation, die automatisch wirkt. Je regelmäßiger ich das übe, desto größer wird die Chance, daß mir dieser Anker in emotional aufgewühlten Situationen auch einfällt - und ich ihn bewußt nutzen kann.

Dadurch, daß ich mich mit meinem Atem verbinde, verbinde ich mich mit meinem Körper - und tauche damit im jetzigen Augenblick auf. In unseren schnellen emotionalen Reaktionen werden in der Regel alte Verletzungen in uns berührt. Wir fühlen uns als Opfer - ohnmächtig. Diese Wahrnehmung trennt uns vom Augenblick wie er ist. Durch den Atem finden wir wieder zurück. Die unmittelbare - schnelle Reaktion auf das was von außen auf uns zukommt wird kleiner, andere Emotionen tauchen wieder in uns auf. Oder anders gesagt - die Identifikation mit nur einem Gefühl in der Streßreaktion kann sich lösen, wenn wir uns mit unserem Atem verbinden.

In Schritt zwei erweitern wir unseren Fokus vom Atem so weit, daß wir mit unserer Aufmerksamkeit ganz zur anderen Person gehen können. In dem Bemühen möglichst ganz zu verstehen wie die Welt von ihrer Seite aussieht. Auch wenn ihre Sicht weit von unserer eigenen entfernt ist oder wenn diese Person sehr emotional ist.

Es geht in diesem zweiten Schritt nur ums Zuhören und verstehen wollen. Die eigene Antwort pausiert. Das eigene Handeln ist für den Moment ausgesetzt. Es geht darum die ganze Situation möglichst vollständig zu erfassen.

Konflikte eskalieren meist, weil keine der beiden Parteien ausreden kann - schon fällt ihr die andere in ihrer Emotionalität ins Wort. Man schreit sich irgendwann nur noch an. Geht auseinander. Worum es inhaltlich ging - was die Bedürfnisse beider Seiten waren bleibt ungesehen.

Zuhören in der Achtsamkeit passiert ganz bewußt in einer Haltung des Nichtwissens und des Nicht Urteilens. Das Verstehen wollen steht im Vordergrund. Dem anderen die Zeit zu geben zu sagen was er sagen will. Nachzufragen, wenn man nicht richtig verstanden hat.

Dieses Innehalten löst oft schon einen Teil des Konflikts, denn man gibt dem Gegenüber Raum zu sagen was er sagen möchte.

Wenn ich während des Zuhörens ganz bei mir bin und gleichzeitig ganz beim anderen - ohne zu reagieren - dann kann ich beobachten, wie sich mein Bild der Situation ändert. Ich kriege ein vollständigeres Bild der Situation, wenn ich meinem Gegenüber wirklich zuhören kann. Und ich kriege ein vollständigeres Bild von dem was das in mir auslöst, denn ich kann über längere Zeit in mir nachspüren, ohne sonst irgendetwas zu machen - auch das entspannt mich in der Situation.

Wenn ich die Gesamtheit der Situation wahrgenommen habe, ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß meine Antwort angemessen ist und den Konflikt nicht vertieft. Meist hat am Anfang des Konflikts jeder eine unverrückbare Meinung. Ein "Kompromiß" scheint nicht möglich. Entweder du oder ich - genau das löst die Emotionalität am Anfang aus. Auch unsere gängige Vorstellung von Kompromiß löst Angst aus. Denn sie besteht daraus, daß man sich trifft, und jeder etwas von seiner Seite opfert. Diese Vorstellung ist unangenehm.

Das Halten der Situation in Achtsamkeit und das neugierige Erforschen von allem was zur Situation gehört - "bevor" man antwortet, öffnet eine dritte Tür. Eine dritte Möglichkeit, die vorher für keinen der beiden sichtbar war. Welche Lösung gibt es, die beiden Bedürfnissen gerecht wird?

Der Streß, den ein Konflikt normalerweise in mir auslöst ist in dem Moment vorbei, indem ich mich mit meinem Atem verbinden kann und zu mir komme. Ich habe dann auch keinen Streß mehr gleich zu antworten, mich abzugrenzen, das "Richtige" zu erwidern. Sondern ich möchte erst mal nur Verstehen. Solange ich nicht verstanden habe, muß ich gar nichts. Ich kann pausieren, kann in Kontakt mit dem Ganzen der Situation kommen - mit meinen Gefühlen und Gedanken - mit den Gefühlen und Gedanken meines Gegenübers und mit allen Argumenten, die zur Situation gehören - bis aus dem Verstehen eine Antwort erwächst.

Im Gedicht "Über die Geduld" schreibt Rilke darüber, wie man so lange mit den Fragen bleibt, bis man in die Antwort hinein wächst. Das beschreibt wunderbar die achtsame Pause. Man will nicht gleich die Antwort finden oder glaubt sie schon zu haben. Achtsame Pause heißt, mit der Frage zu bleiben bis sich die Antwort zeigt, in der beide Seiten gesehen sind.

Wenn wir dem Leben in dieser Haltung begegnen können, sind wir immer bei uns und gleichzeitig beim Anderen. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch.

Ich bin heute davon überzeugt, daß wir nur ganz beim Anderen sein können, wenn wir gleichzeitig ganz bei uns sind.

MBSR Kurs

Was ich hier beschreibe klingt auf den ersten Blick vielleicht ein bißchen utopisch. Man kann nachvollziehen, daß das genau so Sinn macht. Aber wie soll man das in der Hitze des Augenblicks alles machen? Das ist kaum vorstellbar.

Und es stimmt - es ist eine schwierige Übung, in die man erst reinfinden muß. Wenn man sich mit dieser Haltung ganz systematisch verbinden möchte, ist der Besuch eines MBSR Kurses aus meiner Sicht der beste Einstieg. MBSR steht für Mindfulness Based Stress Reduction - Streßverminderung durch Achtsamkeit.

Des 8 Wochen Kurs ist eine Schulung darin unsere eigene Wahrnehmung kennenzulernen, und Stück für Stück zu erweitern. Immer basierend auf der eigenen Erfahrung. Diese Homepage kann die Haltung der Achtsamkeit nicht so strukturiert vermitteln. Sie kann nur Einzelthemen immer wieder aus der Perspektive der Achtsamkeit beleuchten. Um für sich selber konsequent die Haltung der Achtsamkeit kennenzulernen und zu entwickeln, ist der 8 Wochen MBSR Kurs aus meiner Sicht die beste Möglichkeit.

Ungelöstes in uns

Mit der gleichen Haltung wie dem Konflikt im Außen begegnet die Achtsamkeit dem was in uns ungelöst ist. In gewisser Weise ist das was in uns ungelöst ist ja auch ein innerer Konflikt mit uns selber. Auch der ist unangenehm und wir haben die gleichen Reaktionen wie beim Konflikt im Außen. Weg hier - beenden - schnell was tun, damit es nicht mehr so unangenehm ist.

Aber wie beim äußeren Konflikt machen wir dann oft die Erfahrung, daß der innere Konflikt nicht endet.

Also gilt auch hier: Innehalten. Im Atem verankern. Im Jetzt ankommen und dann das Gewahrsein so weit erweitern, daß wir dem in uns zuhören was wir in uns nicht unbedingt hören und sehen wollen. Daß wir die Gefühle spüren, die wir nicht unbedingt spüren wollen. Denn all das gehört dazu. Es bedingt meinen jetzigen Zustand mit.

Genauso wie im Konflikt im Außen kann ich mir angewöhnen auch in mir zuzuhören und zu verstehen, in Beziehung zu gehen - "bevor" ich einfach schnell reagiere, damit die Situation vorbei ist.

Dabei ist die bewußte Zuwendung zu allem wo ich mich instinktiv abwende ganz zentral. Was passiert, wenn ich mit den Teilen in mir in Beziehung gehe, die ich in mir nicht spüren will? Genauso wie im Konflikt im Außen entsteht auch innerlich ein Prozeß der Transformation. Das einseitige Bild der Situation wird ergänzt durch das was nicht gesehen ist.

Auch in mir öffnet sich eine dritte Tür - ein anderer Weg, den keines der in mir widerstreitenden Gefühle gewählt hätte. Da alles in den Blick kommt, was zur Situation gehört, komme ich ins Gleichgewicht - in meine Mitte.

Für den inneren Prozeß gefällt mir immer das Zitat Nietzsches

"Werde, der du bist."

Oder anders gesagt, lerne alles zuzulassen, was zu dir gehört, und erlebe dich dadurch in deiner Ganzheit.

Unbekanntes vor uns

Wo wir Unbekanntem begegnen, begegnet uns auch das Gefühl der Angst. Eine neue Aufgabe, eine neue Umgebung, eine neue Rolle - und wir wissen noch nicht, wie wir dem allen begegnen.

Es ist natürlich, daß wir in uns graben, welche Konzepte aus der Vergangenheit uns in der neuen Situation helfen können. Das hat sein Gutes - aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Denn wenn wir zu sehr an uns bekannten Konzepten festhalten, sind wir nicht wirklich in Kontakt - in Beziehung mit dem Neuen. Und können daher auch nicht angemessen handeln. Wo wir nur auf der Basis von Konzepten handeln, lernen und wachsen wir nicht.

Wenn wir aber nur ins Unbekannte gehen - ganz ohne Konzept - dann sind wir verloren. Also ergibt sich auch hier wieder ein Spannungsfeld von Dualitäten, die sich scheinbar ausschließen. Auch hier gibt es wieder den Pol, den wir gerne annehmen, weil wir ihn kennen. Unsere bekannten, uns vertrauten Konzepte - und einen Pol, den wir nicht so gut aushalten - das Unbekannte.

Nur wenn wir es aushalten an der Grenze zum Unbekannten stehen zu bleiben, innezuhalten, zu atmen und mit ihm Kontakt aufnehmen - in dem Wunsch es zu verstehen, können wir der Situation angemessen begegnen. Einfach weil wir auch hier wieder mit der Ganzheit der Situation wie sie ist in Beziehung gehen.

So ist die Achtsamkeit ein System der Ganzheit, das uns immer wieder in Beziehung bringt mit dem was wir nicht sehen wollen - und daß uns dadurch mit unserer eigenen Ganzheit verbindet.

Wo wir uns mit unserer eigenen Ganzheit verbinden können, kommen wir auch in der Welt mit allem in Beziehung. So weitet sich mit der Übung der Achtsamkeit das Bewußtsein in die Erfahrung der Ganzheit des Lebens.

Tun und Sein

Das Prinzip der Achtsamkeit, möglichst viel der Ganzheit zu erspüren und aus dem Kontakt mit der Ganzheit zu handeln gilt im Prinzip für jedes Thema. Ein Thema möchte ich hier noch bewußt ansprechen, weil es den Kern der Achtsamkeitspraxis betrifft. Den Kern dessen warum Achtsamkeit die Kunst der "Pause" ist: Das Gleichgewicht zwischen Tun und Sein.

Egal womit wir uns in unserem Leben befassen, es gibt immer ein zugehöriges Tun. Und das ist auch gut so. Doch jedes Tun findet seine Ganzheit im Sein. Wenn Tun und Sein keine Balance finden, sind wir nicht im Gleichgewicht. Wenn uns vor lauter Tun das Sein unangenehm wird, ertrinken wir in Geschäftigkeit.

Achtsamkeit ist die Kunst der Pause, weil sie immer wieder einlädt, aus dem Tun in das Sein zu gehen. In das Vertrauen, daß sich im Spüren des Seins nach dem Tun eine neue, bisher unbekannte Tür auftut, die vorher verschlossen war - und die tiefer mit dem Ganzen verbunden ist.

Dualitäten bilden zusammen eine Einheit. Wir können uns mit der Ganzheit nur verbinden, wenn wir die Lösung aus der Einheit finden. Nur wenn Lösungen aus der Ganzheit kommen, wirken sie verbindend.

 

Übung

Wie gesagt ist es nicht einfach, diesen ganzen Prozeß in den Alltag zu integrieren und in Streßsituationen achtsam mit sich und anderen umzugehen.

Daher ist es gut, diese Übung in Schritten kennenzulernen und sich dabei für jeden Schritt eine Woche Zeit zu lassen.

Schritt 1:

Ist mir überhaupt bewußt, wenn ich Streß habe? Merke ich, wenn mein Gefühl eng wird, der Atem schneller, die Muskeln sich anspannen. Wenn ich mich verletzt fühle, wenn ich emotional und reaktiv werde?

Eine gute Übung dafür ist, den Fokus auf die Eigenwahrnehmung eine Woche lang aufrecht zu erhalten und sich jeden Abend zu notieren was man in Streßsituationen unter Tags erlebt hat.

Welche Streßerfahrung habe ich an dem Tag gemacht?

War ich mir während der Streßerfahrung bewußt, daß ich Streß habe?

Wie genau hat sich die körperliche Erfahrung angefühlt?

Welche Gedanken, Gefühle und Stimmungen hatte ich dabei?

Welche Gedanken, Gefühle und Stimmungen habe ich jetzt, wenn ich an die Situation denke?

Schritt 2:

Wenn ich mir meiner eigenen Streßsituation so bewußt geworden bin, daß ich sie im Alltag wahrnehme, verbinde ich mich ganz bewußt in der Situation mit meinem Atem.

Auch dafür ist es gut, sich eine Woche zu geben. Einfach um sich damit zu verbinden was der Fokus auf meinen Atem in mir und der Situation auslöst. Wie verändert sich mein Erleben der Situation, wenn ich mich bei Streß mit meinem Atem verbinde?

Welche Streßerfahrung habe ich an dem Tag gemacht?

Wie habe ich meinen Atem wahrgenommen?

Wie hat sich die Atemerfahrung geändert, als ich mit meinem Atem verbunden habe?

Wie genau hat sich das körperlich angefühlt?

Wie habe ich die Situation ab da erlebt?

Schritt 3:

Ich weite meine Wahrnehmung auf mein Gegenüber aus und höre ihm zu - mit dem Wunsch die Welt aus seiner Perspektive zu verstehen.

Diese Übung kann ich in Woche drei machen.

Welche Streßerfahrung habe ich an dem Tag gemacht?

Wie ist es mir gelungen mit meinem gegenüber in Kontakt zu kommen?

Konnte ich mich während dessen auch selber wahrnehmen?

Wie genau hat sich das körperlich angefühlt?

Wie hat sich die Situation aufgelöst?

Schritt 4:

Nach einer weiteren angemessenen Pause schaue ich, wie ich auf die Situation antworte - wie ich handeln möchte.

Welche Streßerfahrung habe ich an dem Tag gemacht?

Wie gut ist es mir gelungen bei mir und gleichzeitig beim Anderen zu bleiben?

Wie genau hat sich das körperlich angefühlt?

Wie konnte ich am Ende handeln?

 

Diese Übung ist in etwas verkürzter Form ein Teil des 8 wöchigen MBSR Kurses. Im Kurs beginnt sie erst, nachdem das Bewußtsein für die Eigenwahrnehmung schon vier Wochen lang geschult wurde. Jeder kann diese herausfordernde Übung für sich machen. Wesentlich einfacher wird sie, wenn man sie im Rahmen des MBSR Kursprogramms im Austausch mit anderen erlebt und dabei über die anderen Kursteilnehmer die verschiedenen Perspektiven kennenlernt, die mit dem Prozeß verbunden sein können.

Viele Fragen, die sich einem selber bei dieser Übung stellen können, werden im Kurs sehr befriedigend beantwortet.


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