Nachdem wir jetzt das Thema Stress in den ersten vier Teilen in verschiedenen Aspekten kennengelernt haben, kommen wir noch zu einem sehr wichtigen Thema: Was löst eigentlich Stress in uns aus? Und was passiert dabei in unserer Psyche?
Warum entsteht eigentlich Stress in uns?
Stress in Beziehung entsteht überall dort, wo unser emotionales Gehirn die gegenwärtige Situation assoziative mit etwas verbindet, was uns in der Vergangenheit Angst gemacht verletzt hat. Manchmal sind das bestimmte Handlungen, die uns verletzt haben. Oft sind es aber auch Gefühle, die jemand anderer verkörpert, die wir nicht aushalten.
Und das ganz einfach, weil wir unter Personen gelitten haben, die diese Gefühle in unserem Leben verkörpert haben. Oft sind das Situationen aus unserer Kindheit mit unseren Eltern oder anderen Bezugspersonen, in denen wir uns ohnmächtig und verletzt gefühlt haben, aber nicht aus konnten, weil wir ja von unseren Bezugspersonen abhängig sind.
Begegnen uns Situation, die uns in der Vergangenheit Angst gemacht haben heute wieder, fallen wir unmittelbar und automatisch in eine Stresssituation und reagieren wieder so, wie früher. Egal ob ich mit Flucht, Aggression oder Ohnmacht reagiere - ich fühle mich in dem Moment als Opfer der Situation. Als Opfer der Handlung oder der Emotion des anderen, die ich nicht ertragen kann.
Spiegelneuronen
Wir haben im Gehirn sogenannte Spiegelneuronen. Sie sind dafür da, daß wir die Gefühle anderer in uns spüren können und sind somit ein ganz wichtiger Teil unseres sozialen Zusammenlebens. Ohne Spiegelneuronen, könnten wir viele Teile der Emotion unseres Gegenübers nicht lesen. Wir wären in der Begegnung sozusagen emotionale Analphabeten.
Wer in einer Begegnung das stärkere Gefühle hat, der überträgt es schnell auf sein Gegenüber. Starke sichtbare Gefühle haben mit Gefahr zu tun. Deswegen werden sie besonders schnell wahrgenommen. Das heißt, wenn jemand aggressiv ist, spüre ich dieses Gefühl sofort in mir. Wenn aber Aggression ein Gefühl ist, daß ich in mir nicht zulassen kann, muss ich auf jemanden der aggressiv ist mit Flucht oder Ohnmacht reagieren. Denn ich halte das Gefühl "in mir" nicht aus. Denn war ich in meiner Kindheit zu lange jemandem ausgesetzt, der aggressiv war, wird dieses Gefühl in mir tabu. Ich kann es nicht mehr fühlen, weil ich mich davon abgeschnitten habe. Und ich habe dann sehr viel Urteil über dieses Gefühl.
Das Gleiche gilt natürlich für alle anderen heftigen Gefühle.
Das ist der tiefere Zusammenhang bei Grenzverletzung in Konflikten.
Opfer und Täter
Konflikten fühlen sich beide als Opfer. Beide sind durch etwas stark emotionalisiert, was ihre Grenze verletz. Beide empfinden den anderen als Täter. Und keiner von beiden kann im Konflikt den Täter in sich erkennen. Man ist in der Opferhaltung blind dafür, was man gerade dem anderen antut. Schließlich, wie schon in den Teilen vorher erwähnt, versuchen wir, wenn wir Stress haben alles um mit dem Gegenüber nicht in Beziehung zu gehen, weil er uns Angst macht. Das macht es so unmöglich im Konflikt Beziehung herzustellen.
Wie stark ich auf jemanden reagiere, hängt in dieser Reaktion interessanterweise nicht von der Situation ab, sondern davon wie sehr ich in der Vergangenheit verletzt wurde. Je öfter ich verletzt wurde, desto höher ist mein sozialer Stresslevel und desto leichter wird meine Grenze verletzt.
Das ist mit ein Grund, warum im Konflikt Reaktionen oft so unangemessen sind. Wir reagieren gar nicht wirklich auf den Menschen, der uns gegenüber ist, sondern sind in dem Moment emotional verbunden mit alten Situationen in unserem Leben, die uns sehr viel Angst gemacht haben. Wir verlieren im Stresserleben unsere Präsenz.
Wer sich tiefer mit dem Thema der automatischen Stressreaktion auseinandersetzen möchte, der kann im Beitrag "Unsere Gefühle sind schneller als wir denken können - der Autopilot" weitere interessante Zusammenhänge finden.
Was passiert in der Psyche im Stress?
Die körperlichen Auswirkungen von Stress haben wir schon eingehend erkundet. Was passiert aber in der Psyche bei Stress?
Wir sind stark emotionalisiert - ein dominantes Gefühl entsteht
Je stärker der Konflikt empfunden wird, desto stärker werden wir von "einem" dominanten Gefühl vereinnahmt. Wir bestehen dann sozusagen nur noch aus diesem Gefühl.
Sie es die Wut, die Ohnmacht, die Scham, oder ein anderes.
Je mehr nur noch dieses eine Gefühl in uns existiert, desto mehr dominiert es unser Handeln. Je höher subjektiv die Gefahr ist, in der wir uns befinden, desto schneller und heftiger wird dieses eine Gefühl rauf gefahren, das die Beziehung unterbrechen und die Situation beenden soll.
Wir können nicht mehr denken
Je höher die Gefahr subjektiv empfunden wird, desto mehr schaltet unser ganzer Organismus auf Überlebensmodus. Das heißt, alles was überflüssig ist, wird jetzt abgeschalten. Und dazu zählt unter anderem das Denken. Wenn wir sehr erregt sind, kann unser emotionales Gehirn unser denkendes Gehirn einfach ausschalten.
Wir kennen das alle aus Prüfungssituationen oder von wichtigen Vorstellungsgesprächen oder Präsentationen - wenn der Stresslevel zu hoch ist, können wir nicht mehr denken. Wir kommen nicht an unser Wissen ran, obwohl es da ist.
Im Stress sind wir nicht bei uns
Wenn der Stresslevel hoch ist, sind wir also ganz mit "einem" Gefühl identifiziert. Unsere anderen Gefühle, die eine wichtige Ressource sind, stehen uns nicht mehr zur Verfügung. Und wir können nicht mehr denken.
Diese Kombination führt dazu, daß wir im Konflikt oft Sachen sagen, die tatsächlich unbe"dacht" sind und die uns nachher leidtun.
Oder die Situation ist vorbei und uns fällt nachher wieder alles ein, was wir in unserem Vorstellungsgespräch eigentlich sagen wollte - oder der Stoff der Prüfung.
Im Stress unterbrechen wir also nicht nur Beziehung, wir sind auch nicht in Beziehung mit uns selber. Wir bestehen nur noch aus einem ganz kleinen Teil unserer Wahrnehmung. Dieser Zustand dient weder uns, noch der Beziehung, noch können wir in diesem Zustand gute Entscheidungen treffen.
Oft scheint es im engen Blick des Konflikterlebens nur noch eine Möglichkeit zu geben. Und die muss dann auf Biegen und Brechen durchgedrückt werden. Man kommt automatisch in einen Kampf, in dem die Beziehung nie gewinnen kann. Im Konflikt geht sich nur ein Sieg des einen über den anderen aus. Und der ist ein Papyrus Sieg. Denn der, der "besiegt" wurde, ist es seiner Würde schuldig innerlich in Widerstand und Boykott zu gehen. Das ist eine stille Rache, die weiterhin dazu führt, daß auch nach dem so ausgetragenen Konflikt, der Konflikt weiter bestehen bleibt. Er ruht nur scheinbar.
Aus dem Konflikt wieder zu mir finden
Wenn es uns gelingt aus einer solchen Konfliktsituation, die uns Angst und Stress macht, wieder zu uns kommen können, dann tauchen wieder mehr Optionen für das eigene Handeln auf. Wir werden wieder weicher - sind weniger angespannt, können wieder einen Überblick bekommen, können wieder denken, können uns in unser Gegenüber rein versetzen und letztlich die Meinung anderer zu einer Entscheidung mit einbeziehen.
Es entsteht wieder Beziehung.
Vorausschau
Teil 6 und 7 dieser Serie beschäftigen sich mit der tatsächlich entscheidenden Frage, wie ich in Stressituationen angemessener reagieren kann - wie ich in der Streßsituation wieder zu mir finden kann und welche Wege es gibt, Dauerstress in meinem Leben zu reduzieren.