Der heutige Beitrag ist sozusagen Teil 2 zum Thema Haltung. Er beschäftigt sich mit dem Thema Haltung und Grenzen.
"Wie kann ich meine Grenzen gut schützen?" Das ist eine ganz wesentliche Frage, die uns täglich beschäftigt. Und doch lernen wir nie, wie wir das eigentlich gut hinkriegen können.
Aus der Perspektive der Achtsamkeit ist dabei eine Frage ganz wichtig: Wie kann ich meine Grenzen schützen und dabei gleichzeitig in Beziehung bleiben?
Wenn ich einfach nur weglaufe oder andere vor den Kopf stoße, ziehe ich zwar eine klare Grenze - aber Beziehung wird dadurch beschädigt. Oft begegne ich dem Menschen, mit dem ich einen Konflikt hatte am nächsten Tag wieder und dann ist es umso schwerer gut mit der Situation umzugehen.
Wann immer wir Konflikte haben, werden Grenzen verletzt. Bevor ich zum Kernthema dieses Beitrags komme, ein kleiner Blick in die Anatomie von Konflikten selber.
Was passiert mit uns, wenn wir Konflikte haben?
Konflikte haben in der Tiefe immer Angst zu tun. Und in der Angstreaktion gibt es für Menschen universell nur drei mögliche Reaktionen. "Flucht, Kampf oder Ohnmacht."
Auch wenn wir noch so zivilisiert sind, wir reagieren bei Angst und Stress immer noch mit uralten Verhaltensmustern. Und diese Verhaltensmuster haben immer etwas mit verletzten Grenzen zu tun.
Kampf
Gehen wir im Konflikt in den Kampf, heißt das nichts anderes, als daß wir aggressiv, gereizt, wütend, fordernd, vorwurfsvoll, dominant sind.
Die aggressive Haltung täuscht oft darüber hinweg, daß sie eine Angstreaktion ist und die Grenze des Aggressiven verletzt wurde.
Diese Reaktion dient dazu, den anderen sozusagen aus dem eigenen Revier zu vertreiben. Ihn fortzujagen, damit die eigenen Grenzen wieder geschützt sind. Während des Konflikts ist der Fokus des Aggressiven ganz auf beim Gegenüber.
Was passiert mit der Grenze beim Aggressiven ?
Alle Haltungen, die mit Aggression assoziiert sind, in denen mache ich mich größer als ich bin. Größe und oft breiter.
Die Anspannung geht bis in die oft geballten Fäuste, die Lippen und den Kiefer. Und der Kopf wird hoch getragen. In der Aggression schaue ich auf mein Gegenüber hinunter.
Dabei passiert etwas Interessantes mit der Grenze. In dem Moment, wo ich mich größer mache, bekomme ich eine gute und starke Grenze. Der andere macht mir dann weniger Angst und ich fühle mich sicherer. So kann ich mein Gegenüber fixieren und vertreiben.
In dieser Haltung bin ich zwar gut abgegrenzt, aber ich verletze mein Gegenüber - meist ohne es zu merken. Denn subjektiv verteidige ich nur meine Grenzen und fühle mich selber oft als Opfer der Situation.
Und so tue ich in dieser Haltung Dinge, die mir nachher oft leid tun. Sie sind dann aber nicht mehr ungeschehen zu machen. In der Aggression kann ich mich behaupten - aber nur auf Kosten von Beziehung.
Es ist also nur ein scheinbarer Sieg.
Flucht
Gehen wir im Konflikt in die Fluchtreaktion, kommen wir in ganz andere Gefühle. Wir fühlen uns unterlegen und haben Angst dem anderen in die Augen zu schauen. Oft sind Gefühle von Scham, Minderwertigkeit und Schuld da. Wir schauen, wie wir möglichst schnell aus der Situation raus kommen können. In der Tiefe wollen wir so schnell wie möglich weglaufen, können das aber in den meisten sozialen Situationen nicht wirklich machen.
Auch hier ist die eigene Grenze verletzt. Nur durch das Weglaufen, durch das Verschwinden aus der Situation wird unsere Grenze wieder geschützt und wir kriegen wieder Raum zum Atmen. Während des Konflikts ist der, der eigentlich weglaufen will, ganz mit sich selbst beschäftigt, denn er kann sich mit dem Gegenüber nicht konfrontieren.
Wie verschiebt sich die Grenze bei dem, der weglaufen möchte ?
In der Fluchthaltung passiert mit Haltung genau das Gegenteil von der Aggression. Ich mache mich kleiner als ich bin. Dadurch verliere ich meine Grenze. Der Aggressive ist mir im Konflikt viel zu nahe. Er steht sozusagen in mir drin. Der Konflikt geht mir unter die Haut, aber ich habe nicht die Kraft ihn wegzudrücken. Dazu bräuchte ich Aggression.
Ich kann dem anderen nicht in die Augen schauen und rolle mich sozusagen ein.
Erst wenn der andere weit genug weg ist, ist meine Grenze wieder geschützt. Die inneren Konflikte und Gefühle hängen mir dann oft noch Stunden nach.
Und was bleibt, ist die Angst vor der nächsten Begegnung und die emotionale Erfahrung, daß ich meine Grenze nicht gut schützen kann. In dieser Haltung werde ich versuchen, das aggressive Gegenüber nach Möglichkeit zu meiden. Da ich in dieser Haltung keinen offenen Widerstand leisten kann, leiste ich oft versteckten Widerstand und boykottiere den Aggressiven heimlich.
Auch hier leidet Beziehung unter der Haltung. Denn Beziehung gelingt nur dort, wo man auf Augenhöhe ist und sich wirklich begegnen kann.
Ohnmacht
In der Ohnmacht ist die Grenzverletzung so stark, daß wir am ganzen Körper erstarren. Wir können uns nicht mehr rühren, können oft kaum noch denken oder fühlen und warten nur, bis es vorbei ist. Wir sind in der Ohnmacht ganz Opfer der Situation.
Dieses nicht Denken und nicht Fühlen können ist eine psychische Selbstschutzreaktion gegen Unerträgliches, dem ich nicht ausweichen kann.
Was passiert mit der Grenze in der Ohnmacht ?
In der Ohnmacht ist das Angsterleben so gesteigert, daß die Grenze ganz in der Wehrlosigkeit aufgehoben ist. Um mich dabei noch schützen zu können, erlebe ich die Situation gefühllos und völlig erstarrt.
Ohnmachtsgefühle sind in der Regel mit traumatischen Ereignissen assoziiert.
Wenn die Situation vorbei ist, dauert es oft lange, bis die Anspannung sich wieder aus dem Körper zurückzieht. Komme ich öfters in ohnmächtige Haltungen, vermeide ich die Situationen, die mich dahin bringen sehr stark, weil sie mit sehr großer Angst verbunden sind. Erlebe ich diese Situationen bei sozialen Kontakten immer wieder, ziehe ich mich in meine eigene Welt zurück.
Die entscheidende Frage lautet also: In welcher Haltung habe ich eine klare Grenze - und kann im Konflikt - in der Angstreaktion mit aufrechter Grenze in Beziehung bleiben?
Die achtsame Haltung im Konflikt
Es gibt genau eine Haltung, in der es mir möglich ist eine klare Grenze zu haben und gut in Beziehung zu bleiben. Das ist die Haltung, in der ich mich weder kleiner noch größer mache als ich bin.
Im Yoga ist diese Haltung als Berghaltung bekannt. Die Berghaltung ist ein aufrechtes Stehen im völligen Gleichgewicht des Körpers. Dabei wird fast das ganze Gewicht vom Skelett getragen und die Muskeln des Oberkörpers können sich maximal entspannen. Im Sitzen entspricht die Haltung der Meditationshaltung.
Es ist kein Zufall, daß die Meditationshaltung äußerlich einem völligen Gleichgewicht entspricht, denn diese Haltung verbindet auch gleichzeitig mit einem inneren Gleichgewicht.
Gelingt es mir in einer Konfliktsituation ganz bewusst mit dieser Haltung in Kontakt zu gehen und die Aufmerksamkeit auf meinen Atem zu lenken, kann ich mich selbst aus meiner Angstreaktion heraus holen. Durch die Bewusstheit über die Wirkung dieser Haltung.
Bewusst entspannen
Jede Angstreaktion ist mit Anspannung verbunden. Gelingt es mir also in der Stresssituation mich bewusst mit der Berghaltung zu verbinden und dabei ganz bewusst alle Muskeln in meinem Körper zu entspannen und tief zu atmen, dann komme ich wieder in meine Mitte. Das Entspannen gilt dabei für den ganzen Körper, inklusive der Arme, Beine, Rücken, Nacken und der Mimik. Die Aufrichtung des Oberkörpers entsteht über den Atem. Das Zwerchfell spannt sich in der Angstreaktion intuitiv an und hält uns auch in der Angst. Kann ich das Zwerchfell bewusst entspannen und tief atmen, löst sich die Angst.
In der Berghaltung mache ich mich "weder größer noch kleiner als ich bin". Gelingt die Berghaltung samt Entspannung der Muskeln, kann ich wieder klar denken. Ich bin nicht mehr so von einem Gefühl gefangen genommen und stark emotionalisiert und dadurch bekomme ich wieder Spielraum für mein Handeln.
Was passiert in der Berghaltung mit meiner Grenze ?
Wenn ich mit der Berghaltung gut verbunden bin, habe ich auch eine eindeutige Grenze. Eine Grenze, die aus dem Gleichgewicht der Haltung kommt. In dieser Haltung ist meine Selbstachtung so groß wie die Achtung vor dem anderen. Auch hier entsteht ein Gleichgewicht.
In dieser Haltung ist ein Nein nicht mehr und nicht weniger als ein Ja zu mir selbst, das ich dem anderen mit Achtung vermitteln kann.
In der Berghaltung zeige ich mich nicht dominant und mache meinem Gegenüber Angst.
Und ich zeige mich auch nicht unterwürfig und mache mich so zum Opfer meines Gegenübers. Ich erstarre auch nicht und komme damit auch nicht in ohnmächtige Gefühle.
Der Blick ist gerade und auf Augenhöhe mit dem Anderen. Er scheut nicht die Konfrontation, aber er will auch nicht dominieren.
So schafft die Haltung aus sich heraus alle Voraussetzungen dafür auch in Konfliktsituationen mit mir selbst und mit meinem Gegenüber in Beziehung bleiben zu können.
Diese Haltung hat immer eine Wirkung auf mein Gegenüber. Denn egal wie groß die Angstreaktion auf seiner Seite ist, er wird durch diese Haltung im Gleichgewicht weder auf die eine noch auf die andere Weise weiter provoziert.
Kann ich mich also mit dieser Haltung gut verbinden, ist das die größtmögliche Einladung für mein Gegenüber auch in diese Haltung zu finden.
Übung:
Was hier geschrieben vielleicht einfach klingt, ist in der Praxis allerdings nicht so leicht umsetzbar. Es braucht dazu ein Maß an Körperbewusstsein, das nicht von heute auf morgen kommt. In Streßsituationen reagieren wir unbewusst und sind unglaublich schnell sehr emotionalisiert. Daher braucht es Übung, um in solchen Situationen auf die Idee zu kommen, daß man sich mit der Berghaltung verbinden kann.
In den Workshops zur Achtsamkeit (insbesondere beim MBSR Kurs) hat das Körperbewusstsein aus genau dem Grund einen hohen Stellenwert. Im Bodyscan, im achtsamen Yoga und in der Meditation wächst mit der Übung in den mehrwöchigen Kursen das Gefühl für die eigenen Anspannungsmuster im Stress.
Gleichzeitig wächst das Körperbewusstsein. Berghaltung und Meditationshaltung sind körperlich gut eingeübt. Und so wird es einfacher in einer Konfliktsituation in diese Haltung zu finden - seine Grenze gut zu wahren - und dabei gleichzeitig in Beziehung bleiben zu können.
Die heutige Übung darin, diese Haltung bewusst einzuüben. Möglichst täglich in Meditation, mit achtsamem Yoga und im Alltag.
So kann sich diese Haltung Stück für Stück als Gewohnheit im eigenen Leben etablieren. Als eine Haltung, zu der ich immer wieder leicht finden kann.