Die 9 Aspekte der Achtsamkeit sind so etwas wie eine Sammlung der Grundwerte, mit denen die Achtsamkeit aufs Leben schaut. Der heutige Beitrag ist zum Thema Anfängergeist.
Wenn wir etwas das Erste Mal machen, dann sind wir mit allen Sinnen bei der Sache - vollkommen präsent. Wir haben noch kein Konzept, sind neugierig und voll bei der Sache.
Sind wir erwachsen sind, glauben wir manchmal, daß wir etwas Extremes wie Bungee Jumpen machen müssen, um etwas ganz neu zu erleben und wieder staunen zu können wie Kinder.
Aber es ist möglich, den Augenblick wieder wirklich zu sehen und zu spüren - jenseits unserer Konzepte. Dann kann jeder Augenblick wieder so spannend werden wie die Wahrnehmung des Kindes.
Dazu ist es notwendig erst mal viel langsamer zu werden als wir das als Erwachsene sind. Und wieder genau hinzuschauen - mir Zeit zu nehmen für das was gerade ist. Dann begegne ich dem Augenblick, gehe mit ihm in Beziehung. Und je länger ich das tue, desto mehr komme ich ins Wahrnehmen und Spüren von Dingen, die ich sonst nicht mitbekomme. Desto mehr unbekanntes entdecke ich und werde wieder neugierig.
In diesem Anfängergeist den Dingen zu begegnen, so als wäre es das Erste Mal - das ist ein ganz wichtiger Aspekt von Achtsamkeit. In diesem Blick kann ich wieder ähnlich in Präsenz kommen wie Kinder und mein Leben anders erfahren.
Mein Unbewusstes legt ständig Konzepte an
Begegne ich einer Situation, die ich schon kenne, habe ich in mir ein Konzept davon abgelegt, wie ich auf sie reagiere und was wichtig ist. Diese Konzepte und Muster sind wichtig. Hätten wir sie nicht, wären wir in unserer bewussten Wahrnehmung ständig überfordert.
Aber diese Konzepte und Gewohnheiten halten uns auch in Mustern in bekannten Situationen immer wieder gleich zu reagieren - ohne es zu merken. Denn die Entscheidung wie wir reagieren, fällt im Unbewussten - im sogenannten emotionalen Gehirn, das unsere Gefühle steuert.
So bringt uns unser emotionales Gehirn in Reaktion auf die Welt ständig in wechselnde Gefühle, ohne daß wir mitbekommen, wie das abläuft.
Auch Beziehungen laufen nach Mustern
Nicht nur Körpervorgänge wie das Gehen, das Radfahren, schwimmen oder Zähneputzen sind im emotionalen Gehirn in automatisierten Konzepten abgelegt. Das heißt, wir müssen uns keine Gedanken mehr machen wie wir uns über Wasser halten. Unser Körper hat ein funktionierendes Konzept, dem er folgt.
Auch Beziehungen werden in solchen Konzepten gespeichert. Wenn ich mit bestimmten Verhaltensweisen anderer Menschen angenehme Gefühle verbinde, werden sofort die zugehörigen Gefühle in mir aktiviert und ich entspanne mich. Bei mir unangenehmen Verhaltensweisen anderer Menschen spanne ich mich an und komme in Gefühle, die mich in der Vergangenheit bei ähnlichem Verhalten gut geschützt haben.
Das emotionale Gehirn steuert solche Vorgänge viel schneller als wir denken können. Und schon reagieren wir automatisch und gleich wie früher.
So praktisch und wichtig diese Automatisierungsfunktion ist, sie hat auch einen großen Nachteil. Sie läßt uns viele Beziehungen nach immer gleichen Mustern erleben - auch wenn diese Muster im Jetzt nicht hilfreich sind.
Wir nehmen die Einzigartigkeit von Situationen und Menschen also nicht mehr wahr, wenn wir nur auf der Basis von Gewohnheiten reagieren. Wir verlieren unsere Offenheit, wenn wir unseren Anfängergeist verlieren. Und wir verlieren Präsenz. Denn wir schauen nicht mehr genau hin.
Überall, wo wir den Anfängergeist verlieren und nach Konzepten handeln, gehen wir nicht mehr wirklich in Beziehung.
Achtsamkeit kann das Muster lösen
Ich kann bewusst entscheiden langsamer zu werden, mich ganz mit meiner Sinneswahrnehmung zu verbinden und nicht gleich zu reagieren. Ich kann mich bewusst entscheiden in Beziehung mit etwas und jemanden zu bleiben - länger als ich das in der Regel tue - mit der gleichen Neugier und dem gleichen Anfängergeist wie ein Kind.
Auch wenn Annehmen, Konzepte und Interpretationen in Bezug auf einen anderen Menschen in mir auftauchen, kann ich lernen bei meiner Wahrnehmung zu bleiben und alle Annahmen mal auf Halt zu stellen.
Kann ich mich der Situation neugierig zuwenden, habe ich die Chance sie neu zu sehen und kennenzulernen.
Dieser Blick ist der Anfängergeist.
Anfängergeist bringt mich in Beziehung
Wenn ich so auf Situationen, Menschen und Beziehungen schauen kann, ist das für mich eine neue und oft unbekannte Perspektive.
Meine Konzepte sind weiterhin da, aber ich erlaube mir sie für einen Moment auszusetzen und ganz frisch auf die Situation zu schauen.
In der Verlangsamung entdeckt der neugierige Anfängergeist eine Fülle von Eindrücken, die mir sonst entgehen. Eine Blume ein oder zwei Minuten einfach nur anzuschauen oder ein Bild, einen Menschen, einen Gegenstand - das bringt mich auf ganz eigene Art in eine sehr reiche Erfahrung.
Wenn ich lerne mich mit dem Anfängergeist und dem Augenblick so zu verbinden, kann jeder Augenblick neu werden und meine gewohnheitsmäßigen Beziehungsmuster werden unterbrochen.
Begegne ich der Welt im Anfängergeist, erschließen sich eine Fülle von neuen Perspektiven und Möglichkeiten zu handeln. Lebendigkeit, Lebenslust und Kreativität werden dabei geweckt.
Gleichzeitig mache ich neue emotionale Erfahrungen mit mir bekannten Situationen. Und genau diese Erfahrungen können meine gewohnheitsmäßigen Muster unterbrechen.