Unsere Wahrnehmung ist unglaublich schnell. Es dauert nur Bruchteile einer Sekunde und wir können erfassen, was wir sehen. Da sehen wir Stuhl, Lampe, Baum, Blume, Wolke, .....
Es stellt sich aber die Frage, ob wir sie "wirklich" sehen. Denn die Schnelligkeit, in der wir Dinge erkennen, hat mehr mit der Fähigkeit unseres schnellen Unbewussten zu tun, Dinge einfach blitzschnell erfassen zu können.
Ich sehe lediglich ein Konzept
Achte ich genau darauf, was ich da so schnell sehe, dann kann ich gut benennen, es war ein Kugelschreiber, ein Schreibtisch, ein Teller, .... Aber wie der Kugelschreiber, der Schreibtisch oder der Teller wirklich aussehen, das weiß ich nicht. Ich kann eine Rose sehen - aber welche Form "diese" Rose genau hat, das kann ich nicht sagen.
In der Geschwindigkeit erfasse ich sozusagen Konzepte, aber ich gehe nicht wirklich in diesem Augenblick in Beziehung mit dem, was in diesem Moment vor mir ist.
Es ist interessant, was passiert, wenn ich länger auf etwas hinschaue und es bewusst wahrnehme. Lange Jahre meines Lebens war ich Regisseur und aus dem Schneideraum kenne ich noch genau die Zeit, wie lange es dauert, bis man ein Bild erkennt und wie lange es dauert, bis man ein Bild spürt. Letzteres sind beim Film so ungefähr drei Sekunden. Ab da sehe ich nicht nur eine Wiese, sondern ich beginne, sie sinnlich wahrzunehmen.
Ab da steige ich aus dem "Konzept Wiese" aus und tauche in die sinnliche Erfahrung ein. Ich spüre dann, was ich sehe. Und da ich mit dem, was ich sehe, in Resonanz gehe, beginne ich auch mich selbst zu spüren.
Ich höre auf, ein Konzept zu sehen. Ich gehe direkt in Beziehung mit dem, was in diesem Moment an sinnlicher Erfahrung da ist.
Das Spüren vertiefen
In einem meiner Workshops beginne ich damit, dass alle Teilnehmer Bilder von Händen betrachten, die ich zur Verfügung stelle. Anfangs schauen sie auf die Bilder so schnell, dass sie gerade erkennen, was sie sehen. Von da weg werden wir von Runde zu Runde langsamer.
Je länger die Teilnehmer schauen, desto mehr Gefühle werden in ihnen ausgelöst. Je länger die Dauer, desto mehr werden sie durch die Bilder berührt. Es entsteht Beziehung.
Wenn ich mir wirklich Zeit nehme, ein Bild, ein Gesicht, einen Gegenstand zwei oder drei Minuten anzuschauen, entdecke nicht nur Details, die ich vorher nicht gesehen habe. Ich beginne, das, was ich sehe, mit Bedeutung aufzufüllen. Es fallen mir assoziativ Geschichten und Deutungen dazu ein und kann in eine tiefe emotionale Erfahrung kommen.
"We make the world beautiful by paying attention." Diesen Satz habe ich vor Kurzem in einem Vortrag gehört und er trifft für mich genau die Wirkung, die ich selber oft wahrnehme.
Präsenz
Wenn es mir gelingt, mich ganz bewusst mit dem Augenblick zu verbinden, kann ich wieder beginnen zu staunen und die Fülle der Welt wahrzunehmen.
Präsenz ist das Eintauchen in die jetzige sinnliche Erfahrung des Augenblicks mit allen Sinnen. Gelingt es, ist es möglich, Dinge, an denen ich täglich vorbeigehe, wieder ganz neu zu sehen und Dinge, die ich nicht kenne, wirklich in der Tiefe wahrzunehmen.
Diese Ebene des wirklichen Hinschauens und Wahrnehmens verlieren wir leider auch bei den Menschen, die uns nahe sind. Wir sehen oft nicht mehr unsere Frau, unseren Mann, unser Kind, unseren Freund oder Freundin. Oft schauen wir nur kurz hin und erkennen das Konzept, das wir von ihnen haben.
Wirklich hinzuschauen, sich Zeit zu nehmen, zuzuhören, neugierig zu sein auf den Menschen, der jetzt - in diesem Augenblick vor mir sitzt, ist eine genauso schöne Entdeckungsreise in Beziehung und Spüren, wie das Betrachten von Gegenständen, der Natur, von Architektur, von Tieren, ....
Je länger ich mich auf etwas beziehe, indem ich mit allen Sinnen anwesend bin, desto mehr Beziehung entsteht.
Übung:
In der Übung zum heutigen Beitrag lade ich dazu ein, genau das auszuprobieren, was ich oben beschrieben habe.
Egal, wo du gerade sitzt oder gehst oder stehst, dir die Zeit zu nehmen, wirklich genau und bewusst hinzuschauen - mit etwas wirklich Beziehung aufzunehmen, indem du es mit allen Sinnen wahrnimmst.
Dabei kannst du bewusst beobachten, was diese Erfahrung mit dir macht. Wenn diese Erfahrung angenehm ist, lade ich dich dazu ein, sie bewusst in verschiedenen Situationen zu vertiefen.
Bewusst präsent zu sein, mit dem was ist, ist eine der grundlegendsten Säulen der Achtsamkeit. Viel Spaß bei deiner eigenen Entdeckungsreise.