Ich habe in den letzten Wochen viele Geschichten gehört von Menschen, die mit sich selbst unzufrieden sind, weil sie ihren eigenen Erwartungen nicht genügen.
Darunter war beispielsweise dieses Mail einer Freundin von mir:
Ich selbst habe von mir erwartet, dass ich die freigewordenen Termine sofort mit Klavierüben, Kreativität, 3 Bestseller in 3 Wochen schreiben, und wasweißich fülle. Tatsächlich habe ich jetzt eine Woche gebraucht, um mit der neuen Situation irgendwie umzugehen, und schaue jetzt, dass ich in kleinen Stücken irgendwie die wenigen beruflichen Deadlines halte, die ich habe. Inzwischen bin ich angekommen und habe mich ein bisschen von den Erwartungen gelöst, aber in den letzten Tagen war das doch ziemlich übermächtig.
Nebenbei höre ich von überforderten Eltern, die sich zwischen der Erwartung, daheim super Unterricht zu machen, normal weiterzuarbeiten und die Kinder und den Haushalt zu versorgen, aufreiben, und in keinem der Bereiche ihre Erwartungen (und die vermeintlichen ihrer Umgebung/der Gesellschaft) erfüllen.
Die Menschmaschine
Es gibt so eine mechanistische Sicht auf den Menschen in unserer Kultur. So eine Erwartung, er könnte immer funktionieren. Immer Leistung bringen. Diese Sicht allein ist reiner Anspruch und lässt letztlich die Menschlichkeit völlig außen vor.
Wenn nichts in der Welt mehr so funktioniert wie immer, warum habe ich dann an mich die Erwartung, daß ich so funktioniere wie immer? Die Ereignisse der letzten Wochen bringen jeden aus dem Tritt. Es tut gut, sich das zuzugestehen. Das ist menschlich und es verbindet uns alle.
Das moderne Leben....
... hat ganz interessante Vorstellungen. Ich sollte mich zu hundert Prozent mit meiner Arbeit identifizieren und engagiert sein, gleichzeitig aber eine Mutter, die immer für ihre Kinder da ist, viel Zeit für meine Partnerschaft haben, Hobbies zum Ausgleich, mich um meinen Körper kümmern ist auch wichtig. Informiert sein über gute Ernährung, letztlich geht doch nichts über gute Freundschaften. Die wollen gepflegt werden usw...
Schon bei den ersten beiden Punkten merkt man - das geht sich zusammen irgendwie nicht aus.
Dabei werden Bilder vermittelt und Geschichten erzählt von Menschen, die das alles mit Leichtigkeit schaffen und dabei strahlend von den Titelseiten von Zeitschriften lächeln, weil sie dabei so entspannt sind.
Schaut man auf sein eigenes Leben und fragt sich, "was hab ich heute eigentlich geschafft?", lautet die traurige Bilanz: Den Einkauf, drei Leute wollten irgendwie was von mir - das hab ich dann gemacht. Dann war gar nicht mehr so viel Zeit, also hat es sich auch nicht gelohnt mit etwas Wichtigem richtig anzufangen. Also hab ich ein paar Nebensächlichkeiten erledigt. Was am Abend bleibt, ist die Erinnerung was ich eigentlich alles machen wollte - und die Gesichter der Menschen aus den Zeitschriften, die so unerreichbare Ideale vorleben - scheinbar. Denn wie die wirklich leben, wissen wir ja nicht.
Am Ende so eines Tages komme ich mir ganz klein vor und kriege schnell das Gefühl -
Ich bin nicht gut genug
Dieses Gefühl entsteht interessanterweise nie aus mir selbst heraus. Es entsteht aus dem Vergleich zwischen anderen und mir. Es entsteht aus äußeren und inneren Erwartungen, denen ich mich verpflichtet fühle oder mit denen ich mich identifiziere.
Durch den Satz "Ich bin nicht genug" entsteht eine Entfremdung von mir selbst. Denn so wie ich bin, bin ich nicht richtig. So wie ich bin, bin ich nicht wertvoll. Nur wenn ich etwas leiste, bin ich wertvoll.
Und so bin ich ständig in Konflikt mit mir selber. Ständig in Anspannung. Ich kann mich nie so annehmen, wie ich wirklich bin. Und daß das genügt.
Stell dir vor, du bist schon lange gut, so wie du bist und hast es nur nicht gemerkt!
Das ist einer meiner Lieblingssätze. Wann immer ich ihn bei meinen Workshops ausspreche, lächeln alle. Lächeln heißt, daß das Herz zustimmt.
Achtsamkeit ist für mich eine Lebenshaltung, in der ich lerne mich mit dem zu verbinden wer ich bin und nicht mit dem wer ich glaube sein zu müssen. Egal ob die Gesellschaft etwas von mir will oder alte Glaubenssätze aus meiner Kindheit an mir nagen. Du sollst das oder du musst das oder das....
Aber wie kann ich merken, wo mir innere und äußere Erwartungen einfach zu viel sind. Wo sie nicht dem entsprechen, wer ich bin?
Dazu gibt es ein altes chinesisches Sprichwort, das ich sehr mag. Es heißt:
Anspannung ist, wer du glaubst sein zu müssen, Entspannung ist, wer du bist
In diesem Sprichwort liegt eine ganz tiefe praktische Weisheit.
Wann immer sich mein Körper aufgrund eines Gedankens oder eines Plans anspannt, heißt das, daß ich Angst habe und daß mein ganzes psychisches System jeden Versuch boykottieren wird, in diese Richtung zu gehen.
Mein Anspruch - das was ich "glaube" leisten zu müssen, das ist oft weder im Einklang mit dem was möglich ist, noch mit dem wer ich bin.
Versuche ich es dann trotzdem, ist es irrsinnig schwer. Ich habe dann auf einmal alle möglichen Vermeidungsstrategien oder versuche die Dinge zu machen und brauche dafür ewig. Oder ich ermüde schnell. Alles wird bleiern und schwer. Wenn ich überfordert bin mit den Erwartungen an mich, finde ich keinen Fokus mehr. Ich zerfranse mich dann und mache oft 10 Sachen gleichzeitig aber nichts davon richtig. Ich bin ständig angespannt.
In der Anspannung geht immer Energie verloren, weil sie im Körper nicht fließen kann. Ich habe Stress. Stress ist nichts anderes als ein Synonym für Überlastung. Und diese Überlastung macht Angst.
Zu hohe Erwartungen machen mir Angst
So stehe ich vor der Frage, wie wir mit mir umgehen? Versuche ich wie im Märchen Aschenputtel mir die Zehen abzuschneiden, um in den Schuh zu passen? Um für den anderen einem Idealbild zu entsprechen oder lege ich den Schuh beiseite und suche mir einen, der meine Größe hat?
Wie gehe ich mit mir um, wenn mir die Ansprüche wichtiger sind als ich selber? Wenn ich mich angstgetrieben an etwas orientiere, das ich nicht erfüllen kann?
Unterm Strich macht es keinen Sinn Ansprüchen zu folgen, die ich nicht erfüllen kann. Ich kann nur ich selbst sein.
Gleichgewicht zwischen Anspannung und Entspannung
Sicher hat auch Anspannung einen wichtigen Platz, wenn es um Wachtsums- und Lernprozesse geht. Sicher ist es auch wichtig, sich mit Mut Dingen zu stellen, denen ich mich noch nicht ganz gewachsen fühle. So entstehen Wachstum und Lernen.
Wichtig ist nur, daß ich auch wieder in Entspannung finde. Und daß ich nicht konstant mehr von mir erwarte, als ich leisten kann. Fühle ich nur noch Anspruch und Erwartungen und kann mich gar nicht mehr entspannen, ist etwas aus dem Gleichgewicht. Dann verliere ich mich selbst.
Wie erkenne ich mich selbst?
Wie kann ich unterscheiden was nur Erwartungen an mich sind und was ich wirklich möchte und kann?
Sich selbst anzunehmen wie man ist, ist eine der schwierigsten Dinge auf der Welt. Es widerspricht dem, was wir gelernt haben und dem was unsere Kultur von uns verlangt. Wir leben ständig in Bildern, wie wir zu sein haben, um zu entsprechen.
Aber wir können in diesen Bildern nie uns selber entsprechen. Im Folgenden eine Übung dazu, wie ich Stück für Stück lernen kann mit Erwartungen an mich anders umzugehen, damit ich in mir wieder Weite spüre und durchatmen kann.
ÜBUNG
Die Übung ist, dem Körpergefühl der Anspannung und Entspannung zu folgen und mich die nächsten Tage immer wieder zu fragen, was sind meine Bedürfnisse? Was tut mir gut? Was brauche ich gerade um mich entspannen zu können?
Welche Ansprüche und Erwartungen von innen oder außen lösen in mir Anspannung aus?
Nimm dir die Zeit, um deine Augen zu schließen und dich innerlich mit dem zu verbinden, was du oder andere im Moment von dir erwarten. Wenn du dann an konkrete Erwartungen denkst, spürst du, ob in deinem Körper Weite und Entspannung entsteht oder Enge und Anspannung.
Je höher der Grad der Anspannung und Enge ist, desto mehr Angst ist da. Desto mehr wird das ganze emotionale System sich dagegen wehren, dem Anspruch zu genügen. Desto mehr wirst du dich selbst boykottieren.
Wo Weite entsteht ist der Weg frei etwas mit Energie und Freude aus mir heraus zu machen. So komme ich mit mir selber in Einklang. So kann ich Stück für Stück ein bißchen mehr Raum dafür schaffen wer ich bin und mich von inneren und äußeren Ansprüchen Stück für Stück ein Stück befreien.
Dabei tut es gut, wenn ich nicht die Erwartung an mich habe, in dieser Übung perfekt zu sein. Sonst wird es gleich wieder eng und angespannt.
Diese Übung gelingt dann am besten, wenn ich neugierig darauf bin, wie ich mir auf diese Art selbst begegne. Wenn ich mich darin Stück für Stück selbst entdecke. Und wenn ich mir selbst dadurch Stück für Stück "mehr" Platz in meinem Leben einräumen kann, als ich das bislang gemacht habe.
Achtsamkeit ist für mich eine Lebenshaltung, in der es wichtig ist, daß ich jeden Tag mindestens eine Verabredung mit mir selber habe. Eine Verabredung, in der ich merke was ich gerade brauche, wie es mir gerade geht, was mir gerade gut tut.
Wer eine geführte meditation machen möchte, die eng mit diesem Thema verwandt ist, dem empfehle ich den Beitrag "Mein eigener Freund sein".