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Der Tiger, der glaubte eine Ziege zu sein


Diese alte indische Geschichte ist ein schönes Gleichnis darauf, welchen Mut es braucht, um zu dem zu stehen, wer wir sind.

Wie gehen wir damit um, wenn wir spüren, dass unsere Natur eine andere ist, als die unserer Eltern. Eines Tages müssen wir uns entscheiden, wir selbst zu sein.

Der Tiger, der glaubte eine Ziege zu sein

Es war einmal eine Tigerin, die sollte bald niederkommen. Als sie eines Tages im Walde

war, um zu jagen, stieß sie auf eine Herde von Ziegen. Und obwohl sie hoch trächtig war,

gelang es ihr, ein Tier aus der Herde zu reißen. Doch die Anstrengung zwang sie nieder,

und sie gebar ihr Junges und starb. Als die Ziegen merkten, dass keine Gefahr mehr war,

kehrten sie um und entdeckten den jungen Tiger neben seiner toten Mutter, und sie

nahmen ihn in ihre Herde auf.

Der kleine Tiger wuchs auf unter Ziegen, und bald glaubte er, selbst eine zu sein. Er

meckerte so gut er nur konnte, roch wie eine Ziege und fraß nur Grünzeug; auf

jede erdenkliche Weise verhielt er sich wie eine Ziege.

Doch in ihm schlug - wie wir wohl wissen - das Herz eines Tigers.

So nahm alles seinen Lauf, bis eines Tages ein älterer Tiger in die Nähe der Herde kam

und eines der Tiere riss. Sobald die anderen Ziegen den Tiger erblickten, sprangen sie auf und davon - nur unser Ziegen-Tiger sah keinen Grund zu flüchten: Er witterte ja auch keine Gefahr.

Der alte Tiger war ein erprobter und erfahrener Kämpfer, aber nie in seinem langen Leben war er so erschrocken wie jetzt, da er dem jungen Tiger gegenüberstand. Er wusste einfach nicht, was er von einer ausgewachsenen Raubkatze halten sollte, die nach Ziege roch, ihn anmeckerte und sich auch sonst nicht sehr artgemäß aufführte. Und weil er ein brummiger alter Haudegen war, packte er den jüngeren Tiger kurzerhand am Genick, schleifte ihn an einen nahen Bach und zeigte ihm sein Spiegelbild im Wasser. Aber der junge Tiger war überhaupt nicht beeindruckt; er merkte gar nicht, wie ähnlich er dem alten Tiger war.

Verärgert über so viel Begriffsstutzigkeit schleppte ihn der Alte zurück an den Platz, wo

seine Beute lag. Er riss ein Stück Fleisch aus der toten Ziege und schob es

dem jungen Tiger ins Maul.

Stellt euch den Schock und den Widerwillen des jungen Tigers vor! Erst würgte er und

versuchte, das rohe Fleisch wieder auszuspucken, doch der alte Tiger war fest

entschlossen, ihm zu zeigen, wer er wirklich war, und zwang ihn, die ungewohnte Nahrung zu schlucken. Als er sah, dass der junge Tiger alles geschluckt hatte, schob er noch ein Stück nach - doch diesmal war etwas anders.

Unser junger Tiger schmeckte jetzt das rohe Fleisch und das warme Blut, und diesmal fraß er mit Genuss. Und dann streckte er sich und zum ersten Mal in seinem jungen Leben brüllte er - das Brüllen einer Raubkatze.

Dann verschwanden die beiden im Wald.


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