Mit dem Virus müssen wir erkennen, dass wir der Natur viel ausgelieferter sind, als wir das in unserem hoch technisierten Alltag sonst wahrhaben wollen.
Der Virus entzieht sich unserer Kontrolle und bestimmt unseren Alltag - und das macht Angst. Vor allem, weil wir es nicht mehr gewohnt, mit der Ohnmacht gegenüber der Natur zu leben.
Aber auch im Angesicht der Ohnmacht gibt es eine Haltung, in der ich gut mit mir und anderen umgehen kann. Daher finden sich am Ende dieses Beitrags eine ganze Reihe an ganz pragmatischen Ideen, wie man auch im Angesicht der Ohnmacht mit sich und anderen gut in Beziehung finden kann.
Der Status Quo
In den letzten zwei Wochen haben Freunde und einige meiner Klienten in der psychologischen Beratung eine Beobachtung mit mir geteilt: Sie merken, dass sie ihre Herzlichkeit verlieren. Sie merken, dass sie feindlich und gereizt auf andere reagieren, obwohl sie das nicht wollen. So sind sie nicht. So kennen sie sich nicht. Aber sie spüren, dass diese Emotionen mehr und mehr in sie hinein kriechen. Der erneute Lockdown in Kombination mit der Ankündigung der Impfpflicht in Österreich hat diese Stimmung verstärkt. Bislang gab es immer die Vorstellung - bis dahin noch durchhalten, dann haben wir den Virus unter Kontrolle - dann haben wir gesiegt. Aber es wird immer klarer, jetzt zeigt sich, dass der Virus nicht so einfach besiegt werden kann, wie wir uns das wünschen.
Nach dem langen Aushalten und in Kauf nehmen aller Einschränkungen macht sich ein Gefühl breit: egal, was wir machen, wir werden den Virus vielleicht nicht los. Ein Gefühl der Sicherheit gibt es erst wieder, wenn Impfungen, neue Medikamente und Mutationen des Virus dazu führen, dass tatsächlich niemand mehr schwer erkrankt.
Bis dann ist er einfach permanent präsent und bestimmt über unser Leben.
Stress und Anspannung
In der Physik ist Stress die Einheit dafür, wie lange man etwas belasten kann, bis es kaputt geht.
Je mehr Stressoren wir gleichzeitig halten müssen, desto höher wird die Anspannung, und umso schwieriger wird es, nachhaltig zu entspannen. Denn im permanenten Halten "verspannen" wir uns. Über Verspannungen werden wir in Stress- und Konfliktgefühlen gehalten. Da kommen wir dann nicht mehr so einfach raus. Loslassen wird körperlich und damit auch emotional unmöglich. So bleibt unser unbewusster Fokus ständig mit der Angst verbunden und wir kommen nicht mehr zur Ruhe.
Was wir brauchen, um gut im Gleichgewicht zu sein ist, nach jeder Anspannung auch wieder loszulassen und zu regenerieren. In der Pause nach dem Sport wächst der Muskel. Bekomme ich aber diese Zeit zum Regenerieren nicht, kann der Muskel nicht wachsen. Er erschöpft sich und geht kaputt. Das Gleiche passiert mit der Psyche.
Es ist ein ganz wichtiger und guter Überlebensinstinkt, dass wir allem, was uns Angst macht, instinktiv ausweichen.
Können wir erfolgreich ausweichen, ist unsere Grenze wieder geschützt und wir entspannen sofort. Dieses Entspannen heißt auch, dass wir gut zu uns kommen, uns sicher fühlen und daher vertrauen können. Unser ganzes Social Engagement Network fährt dann hoch - wir können mitfühlen und mit anderen gut in Resonanz sein und herzliche Begegnungen haben. Das alles ist ganz einfach möglich, weil unser entspannter Körper die Gefühle des Gegenübers in sich wahrnehmen kann. Das ist die tiefere Ebene von Kommunikation. Zwei Menschen, die entspannt miteinander sein könne, verstehen sich.
Die Perspektive meines Gegenübers ist dann für mich nicht bedrohlich.
Aber was passiert, wenn wir nicht ausweichen können?
Permanente Unsicherheit und Todesangst
Der Virus erlaubt uns kein Ausweichen. Seite fast zwei Jahren ist der Virus nicht nur Teil unseres Erlebens, er prägt auch täglich die Schlagzeilen mit Meldungen, die uns sagen, dass da eine tödliche Bedrohung ist, die ständig präsent ist, obwohl wir sie nicht sehen können. Das in sich berührt eine Urangst.
Kann ich dem Virus und der Angst nicht ausweichen, bekämpfe ich sie. Das ist einfach eine Möglichkeit, die unsere Psyche bei Angst vorsieht, wenn wir nicht weglaufen können. Wir kämpfen gegen den Virus, damit er verschwindet und unsere Grenze wieder hergestellt wird. Doch der Virus lässt sich nicht so einfach besiegen.
Damit kommt der nächste tief wirkende Stressor hinzu - permanente Unsicherheit.
Unsicherheit im Angesicht von Gefahr hält uns ständig in Alarmbereitschaft. Also sind wir ständig in Anspannung. Glauben wir zwischenzeitlich, dass der Virus besiegt ist, und dann kommt er doch wieder, dann vertieft das die Unsicherheit und wir verlieren das Vertrauen darin, dass wir Macht über ihn haben. Diese Ohnmacht ist kaum zu ertragen.
Wer nicht in die Resignation geht, der geht in die Aggression und die Wut. Das ist ganz einfach der zweite Weg, unsere Grenzen wieder herzustellen. Lieber kämpfen, als ganz aufzugeben. Aber wenn ich gegen den unsichtbaren Virus nicht kämpfen kann, richtet sich meine Wut auf alle jene, denen ich vermeintlich die Schuld geben kann. Gegen die Politiker, gegen die Ungeimpften, gegen die Experten, gegen die Geimpften, die Uninformierten, die Ignoranten oder gegen die Informierten. Jeder weiß, warum der andere schuldig ist - aber niemand weiß wirklich, wie wir aus der Sache gut raus kommen. Gäbe es diese sichere Lösung, hätten wir alle kein Problem.
Wer in einer solchen Situation vermittelt, dass alles unter Kontrolle ist, um dann wieder und wieder relativieren muss, der verliert Vertrauen. Auch das ist ganz natürlich.
Wer sich jetzt an verantwortlicher Stelle hinstellt und sagt, dass es keine sichere Lösung gibt
In der jetzigen Situation gibt es aus meiner Sicht keine Schuldigen, sondern nur Menschen, die auf unterschiedliche Weise versuchen, mit der eigenen Ohnmacht und Angst umzugehen.
Der Verlust von Vertrauen und Herzlichkeit
In der Angst und in der Ohnmacht geht leider jede Herzlichkeit verloren. Wir verlieren die Fähigkeit dem anderen zuzuhören und uns gegenseitig wirklich in der Tiefe zu verstehen. Wir können nicht anders, als uns abzugrenzen. Ich gegen die anderen - wir gegen die anderen ist das Ergebnis. Dein Bedürfnis "oder" meines. Dein Weg "oder" meiner. Wir verlieren in der Angst die Möglichkeit, wirklich miteinander in Beziehung zu gehen.
Das ist der große menschliche Verlust, den wir im Moment alle erleben.
Aus meiner Sicht gibt es aber einen Weg, im Einklang mit der Ohnmacht gut miteinander umzugehen und gemeinsam das beste daraus zu machen.
Wege aus dem Dilemma
Ein heilsamer Weg, in der jetzigen Situation wieder gut zu sich zu finden, ist die Entspannung. Das klingt banal - aber nur in der Entspannung können wir uns sicher fühlen, können wieder vertrauen, uns gegenseitig zuhören und verstehen und uns wieder freuen.
Entspannung ist dabei nicht nur psychisch zu verstehen, sondern vor allem körperlich. Denn die körperliche Anspannung hält uns in der Angst. Sie erlaubt es nicht mehr, dass wir wirklich zu uns kommen, sondern hält uns in Konfliktgefühlen.
Was kann ich tun?
Die Achtsamkeit kämpft nie gegen einen Stressor - denn der "Kampf gegen" den Stressor hält meinen Fokus immer auf dem, was mir Angst macht. Alles, was jetzt hier folgt, da spielt der Virus keine Rolle. Die Idee ist, das zu stärken, was wir durch den Virus verloren haben.
Es gibt ein schönes Zitat, das mir immer schon gefallen hat: Für die Lösung braucht es kein Problem. Diesem Ansatz folgt auch die Achtsamkeit.
Daher hier ein paar Vorschläge, sich mit Wegen zu verbinden, die in die Entspannung führen und jeweils eine kurze Beschreibung, warum das eine gute Idee ist:
- Sport: Im Sport wird die angestaute Angstenergie, die in den Muskeln gespeichert ist, entlassen. Das ist eine biologische Funktion, die zu Kampf und Flucht gehört. Die Stresshormone werden abgebaut und die Muskeln können wieder entspannen. Nach Sport fühle ich mich wesentlich entspannter und ruhiger.
- Yoga: Yoga dehnt die durch Anspannung verkürzten Muskeln und stärkt die Muskeln, die zu wenig genutzt werden. Dadurch findet mein Körper wieder in Richtung eines entspannten körperlichen Gleichgewichts, das mit einem emotionalen Gleichgewicht korrespondiert. Gleichzeitig komme ich über Yoga mit meiner Aufmerksamkeit in die Empfindungsebene des Körpers - und das beruhigt.
- Mein Atem: Jedes ausatmen entspannt. Im Stress und in der Angst wird mein Atemraum eng und die mit Anspannung verbundene Einatmung wird mehr aktiviert. Indem ich bewusst in kleinen Pausen oder beim Einschlafen möglichst lang und tief ausatme, schaltet mein Nervensystem ins parasympathische Nervensystem um. Je öfter ich bewusst in diese Form der Atmung komme, desto mehr kann ich entspannen. Mein Körper entspannt und meine Emotionen gehen mit. In der Achtsamkeit nennt man diesen Vorgang emotionale Selbstregulation über den Körper.
- Körpertherapien: Alle Körpertherapien, die mit einem körperlichen Gleichgewicht und gezielter Entspannung in Bezug auf ein emotionales Thema verbinden, sind unglaublich hilfreich und entlastend. Meine Favoriten, die ich auch persönlich regelmäßig nutze, sind Grinberg, Feldenkrais und die biodynamische Chraniosakraltherapie. Es gibt in dem Bereich sicher noch einige Methoden, die ich nicht aus persönlicher Erfahrung kenne, die ebenso entlastend sind.
- Achtsamkeit / MBSR Kurs. Der MBSR Kurs - Stressreduktion auf der Basis von Achtsamkeit - verbindet auf vielen Ebenen tief mit Haltungen und Entspannungstechniken, die es mir erlauben auf Stressoren in einer anderen Haltung zu reagieren. So werde ich resilienter gegen Stress, weil ich besser bei mir bleiben und schneller zu mir zurückfinden kann. Diese Kurse werden überall im deutschen Sprachraum angeboten.
- Mich einem Menschen mitteilen, der mich versteht - das ist überhaupt der allerwichtigste menschliche Faktor, den wir alle brauchen. In der Angstaktivierung fühlen wir uns immer als Opfer, ganz klein, ohnmächtig, unverstanden und allein. Ein Mensch, dem wir uns mitteilen können und der uns versteht - nichts entspannt tiefer. Gibt es diese Menschen in unserem Leben nicht, bleiben wir im Gefühl des Alleinseins und der Isolation, was die Angstaktivierung wiederum verstärkt.
Egal, ob es Freunde, Familienmitglieder oder Fremde sind - ohne diese Möglichkeit, so wie ich bin, verstanden zu werden, fühle ich mich einsam und ausgeschlossen. Wenn es keine Menschen gibt, die das für mich im Moment erfüllen, dann rate ich dazu, Therapeuten und psychologische Berater in Anspruch zu nehmen. Es entlastet ungemein und kann mich wieder mit mir selbst verbinden.
Alle sozialen Kontakte, die mich verstehen, geben unserem Leben Sinn. Ohne sie lösen wir uns auf und verlieren unseren Halt in uns.
- Pausen machen: Stress kriecht in uns rein, ohne dass wir es bewusst mitbekommen. Daher empfehle ich, während des Arbeitstages bewusst Pausen zu machen, in denen ich drei oder vier Yoga Übungen mache, um die in den letzten ein oder zwei Stunden angesammelten Anspannungen gleich wieder loszuwerden. Dann steigt die Chance, dass ich am Ende des Tages ähnlich frisch rauskomme, wie ich am Anfang des Tages reingegangen bin.
- Meditation: Meditation ist eine hervorragende Methode, gut zu sich zu kommen, weil ich aus der aufgeregten Ebene von Gefühlen und Gedanken in die ruhige Ebene der Empfindungen im Körper einsteige und mich so bewusst von meinen Stressoren lösen kann. Aus einem Grund kann ich Meditation allerdings nur bedingt empfehlen. Meditation kann man nicht "einfach so" machen. Es ist wichtig, Meditation zu lernen, unter Anleitung zu erfahren, wie ich mich in der Erfahrung orientiere und sich über die Erfahrung mit anderen auszutauschen. Sonst ist es schwer, in eine gute Meditationserfahrung zu kommen. Eine gute grundsätzliche Einführung in das Thema Meditation ist auch Teil des MBSR Kurses. Darüber hinaus gibt es viele gute Angebote in verschiedenen Traditionen der Meditation, die gut in die Meditationserfahrung einführen.
- Wieder Teil einer Gruppe und eines gemeinsamen Erlebnisses sein. Wenn wir in den nächsten Monaten wieder Yogakurse, Achtsamkeitskurse, Meditationskurse, Sport, Konzerte, Theater, entspannende Freizeitaktivitäten zusammen mit anderen erleben können, führt auch das aus der gefühlten Isolation und Angst. Wer sich also im Moment sehr zurückgezogen hat, dem empfehle ich, wo immer es möglich ist, über eine Gruppenerfahrung wieder in Kontakt zu kommen mit der Lebendigkeit und Freude, mit anderen Menschen eine gemeinsame Erfahrung zu machen.
- Natur: In der Natur verbinde ich mich mit meiner eigenen Natur. Auch das ist ein Automatismus unseres Körpers und unserer Psyche. Die Natur ist ein weiter Raum, der in mir Weite erzeugt, also das Gegenteil angespannter Enge. In der Natur kann mein Blick automatisch in die Weite gehen, was tief entspannt. Und es gibt keine natürlichere Form der Meditation als das Gehen. Im Gehen sind meine Sinne im Außen gebunden und gleichzeitig darf mein Unbewusstes alles verarbeiten, was es beschäftigt, ohne dass ständig starke Reize von außen dazu kommen, die wieder verarbeitet werden müssen. Ich kann also regenerieren.
Es gibt sicher noch viele Dinge, die auf dieser List stehen können. Jeder hat auch ganz individuelle Tätigkeiten, die ihn entspannen.
Sich hinsetzen und Klavier spielen, kochen, malen, putzen, stricken, puzzeln, ..... was auch immer es ist, was mich entspannt, es hilft, den Fokus von der Angst wegzunehmen und zu mir zu kommen.
Achtsamkeit kann man auch definieren, als die Bewusstheit zu wissen, was mir guttut und das in mein Leben einzuladen - also alle Menschen und Beschäftigungen, mit denen ich herzlich verbunden bin. Je stärker der Stress und die Angst, desto wichtiger wird es, dass ich zu mir komme und mich frage:
"Was nährt mich?"
"Was stärkt mich?"
"Was ist mir wichtig?"
"Wie kann ich gut mit mir umgehen?"
Dann darf vieles in meiner Welt sich wieder gut und sicher anfühlen, während gleichzeitig eine Gefahr da ist. Ich kann dann wieder "beides" fühlen und bin nicht nur Opfer meiner Angst. Dann macht Leben wieder Sinn und aus dieser Haltung heraus kann ich auch wieder für andere da sein, die sich vielleicht gerade selbst verloren haben.
Und zu guter Letzt:
- Weniger machen: Stress und Angst gehen immer mit Überforderung einher. Alles, was ich in meinem Leben weniger machen kann und was ich langsamer machen kann, hilft meinem ganzen System, sich wieder zu beruhigen.
Die Weihnachtsferien sind sozusagen das Gegenmodell zum globalen Stresstest des Virus. In den Weihnachtsferien tut fast niemand etwas. So gibt es keine Zeit, in der es einfacher ist, mit gutem Gewissen zu entspannen.
- Einander wieder zuhören: Alle Angst- und Stresserfahrungen haben eines gemein. Wir verlieren die Fähigkeit zum Zuhören und versuchen verzweifelt gehört zu werden. Gleichzeitig versuchen wir verbissen, den anderen davon zu überzeugen, dass unsere innere Realität die richtige ist. In dieser Haltung stehen sich immer zwei Menschen gegenüber, die sich gegenseitig tiefer verletzen und die die gegenseitige Achtung verlieren.
Wer als Erster zuhören, mitfühlen und verstehen kann, der löst den Konflikt. Niemand von uns ist im Besitz der Wahrheit. Wir alle erleben Wirklichkeit und interpretieren sie verschieden. Das liegt in unserer Natur. Es kann nicht anders sein. Jeder lebt immer in seiner inneren Realität.
Daher können wir nur in Beziehung kommen, wenn wir anderen zuhören, ohne Urteil und Wertung und in der Absicht, die Welt aus seinen Augen zu verstehen. Wenn das gelingt, öffnet das den Weg, dass mir mein Gegenüber in gleicher Weise zuhört.
Von diesem Ort des gegenseitigen Verstehens kann man gemeinsam auf die äußere Wirklichkeit schauen und ist wieder in Beziehung.
Einander zuhören und mitfühlen können wir nur, wenn wir in uns entspannen können. Daher ist die Entspannung der einzige Weg in die Beziehung und in die Selbstbeziehung.
Denn wir können auch uns selbst erst wieder zuhören, wenn wir ruhig werden und unsere wirklichen Bedürfnisse wieder wahrnehmen.