Wie erlebe ich mich in den Wirren eines Konflikts und wundere mich nachher, warum ich nicht anders reagieren konnte? Habe ich mich wieder beruhigt, tut mir das, was ich gesagt oder getan habe oft leid und manchmal erkenne ich mich selbst nicht mehr in dem wie ich gefühlt und gehandelt habe. Ich war wie außer mir.
Was passiert in solchen Situationen? Auf Englisch nennt man das bottom up hijacking. Ich werde von unten, von einem alten Teil meines Gehirns entführt, das bei einer Bedrohung in einen Kampf- oder Fluchtmodus geht. Passiert das, verliere ich damit leider die Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl. Sie wird biologisch einfach abgeschalten. Damit empfinde ich die Welt dann als bedrohlich und kann die Perspektive meines Gegenübers in mir nicht mehr zulassen. Und meinem Gegenüber geht es leider genauso. Empathie, Verständnis und Mitgefühl stehen für das, was Beziehungen gelingen lässt. Leider verschwinden sie, wenn wir in Angsterfahrungen kommen. Je tiefer die Angsterfahrung, umso mehr sind wir von ihnen abgeschnitten. Wir fühlen uns dann ohnmächtig und als Opfer der Situation.
In Konfliktsituationen innehalten zu können, zu mir zurückzufinden und wieder mitfühlend werden zu können, ist ein ganz zentrales Element der Achtsamkeit.
Was hat es damit auf sich?
Unsere Persönlichkeit besteht aus unbewussten Mustern
Unsere ganze Gefühlssteuerung läuft unbewusst und automatisch. Wir bekommen davon nichts mit.
Der Teil unseres Gehirns, der für die Gefühlssteuerung verantwortlich ist, aktiviert in einem 1/3000 einer Sekunde ein Gefühl, das mich in der jetzigen Situation bestmöglich schützen soll. Welches Gefühl das in jeder gegebenen Situation ist, das hängt mit den individuellen Beziehungserfahrungen zusammen, die ich in meinem Leben gemacht habe. Hat mich mal ein Hund gebissen, mache ich um Hunde einen großen Bogen und erlebe Angst. War ein Hund in der Kindheit mein bester Freund, gehe ich auf jeden Hund gerne und angstfrei zu. Habe ich in freudige Gesichter geblickt, wenn ich auf der Bühne stand, werde ich die Bühne wieder suchen. Habe ich Kritik und Urteil erfahren, werde ich sie meiden. Denn dann verbinde ich mit der gleichen Situation Angst.
In der Regel dient mir diese unbewusste und automatisierte Steuerung gut, doch in Situationen, in denen ich Angst erlebe, kommt es zu einem Abbruch der Beziehung zu meinem Gegenüber und das ist nicht immer angemessen. Denn in gewisser Weise reagiert mein Selbst aus der Vergangenheit auf eine Situation, die jetzt gerade passiert. Und dieses alte Selbst kann nicht immer gut beurteilen, ob diese Situation der Gegenwart angemessen ist.
Das Problem mit der automatischen Emotionssteuerung
Sobald ich eine Situation als bedrohlich empfinde, spannen sich meine Muskeln an. Ein Zeichen von Angst. Mein altes Gehirn (Reptiliengehirn) möchte mich möglichst schnell aus der Gefahrenzone rausbringen. Das macht es, indem ich entweder wütend und aggressiv werde, oder indem ich den Kopf einziehe und schaue, dass ich möglichst schnell wegkomme.
In diesen Situationen bin ich in Bruchteilen von Sekunden komplett emotional gesteuert und reaktiv. Ich werde sozusagen zum Tier. Beziehung ist nicht mehr möglich.
Da die Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl in der Angst nicht mehr erreichbar sind, mache ich im Konflikt oft Dinge, die ich später bereue. Ich verliere auch die Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen, die für die Lösung einer Situation wichtig wären. In mir verschwinden Perspektiven, weil ich mich in der Anspannung auf ein Gefühl verenge und auf die Perspektive meines Gegenübers kann ich mich in keiner Weise einlassen.
Ich bin dann in einem Gefühl gefangen.
Oft komme ich erst wieder "zu mir" - also zum ganzen Spektrum meiner Emotionen und zur Fähigkeit, die Situation mit kühlem Kopf, wenn die Situation schon Stunden oder Tage her ist.
Diesem emotionalen Kidnapping sind wir in Konflikten alle ausgesetzt. Das ist eine biologische Steuerung, die in dem Moment stärker ist als wir. Ich kann mich aus einem solchen Konflikt weder raus fühlen, noch raus denken. Ganz einfach, weil ich die Kontrolle über mich nicht mehr habe.
Aber - ich kann mich - wenn mir bewusst ist, wie das geht, aus einer Situation bewusst heraus regulieren. Das Innehalten ist ein möglicher Weg dazu.
Innehalten als Weg zu mir
Innehalten im Konflikt heißt, bewusst stehenzubleiben. Im Konflikt nicht reaktiv zu handeln und in den Streit einzusteigen - in dem Bewusstsein, dass ich im Konflikt meine Menschlichkeit, meine Beziehungsfähigkeit, meine Empathie und mein Mitgefühl mit mir und anderen verliere.
Bleibe ich in der Reaktivität, erlebe ich nur Trennendes und verletzendes. Im Streit kann sich Beziehung nie wieder herstellen. Sie geht verloren.
Stattdessen gehe ich ganz bewusst in eine Selbstanbindung, die in mir Beruhigung auslöst, die also die Angst, die ich im Moment empfinde, reduziert.
Eine gute Möglichkeit ist, mich ganz auf meinen Atem zu fokussieren und ganz bewusst jeden Muskeln in meinem Körper zu entspannen. Denn die bewusste Entspannung führt mich aus der Angstaktivierung raus.
Lege ich meinen Fokus auf den Atem, löse ich meine Aufmerksamkeit in dem Moment auch von dem, was mir gerade Angst macht, was ebenfalls dazu beiträgt, dass ich mich beruhigen und wieder gut zu mir kommen kann.
Mit dieser Beruhigung und Selbstanbindung finde ich in die Beziehung mit mir selbst zurück. Ich bekomme wieder Selbstmitgefühl. Dabei verbinde ich mich wieder mit der Fähigkeit, die Situation bewusst zu beobachten und zu reflektieren und ich spüre mich wieder. Interessanterweise ist die Emotionssteuerung wesentlich schneller als der denkende Teil unseres Gehirns, aber wenn ich mich über den Atem und den Körper bewusst entspanne, ist das stärker als die Emotionssteuerung. Auf diese Weise kann ich lernen, mich bewusst aus der Angst zu holen.
So führt Innehalten zur Möglichkeit, mich selbst zu beruhigen und wieder Halt in mir zu finden. Das ist der einzige Weg, wie ich in einem Konflikt wieder gut und konstruktiv mit anderen in Beziehung finden kann.
Je öfter mir das im Konflikt gelingt, desto mehr wird die Fähigkeit innezuhalten ein Teil meiner Persönlichkeit. Und auf diesem Weg kann ich lernen, Stück für Stück freier zu werden von alten Angstmustern meiner Persönlichkeit, die mir heute nicht mehr dienen.
Übung:
Einmal zu lesen, wie Innehalten funktioniert und was im Konflikt passiert, führt vielleicht dazu, dass ich vieles von dem in mir wiedererkenne. Aber das heißt nicht, dass ich das Innehalten gleich morgen ohne Weiteres umsetzen kann. Die Haltung der Achtsamkeit und des Innehaltens braucht Geduld und Übung.
Die für mich beste Möglichkeit, in diese Haltung zu finden, ist für mich der 8-wöchige sogenannte MBSR Kurs, der überall im deutschsprachigen Raum angeboten wird.
Wie jede Sache im Leben kann ich durch Übung auch die Fähigkeit zum Innehalten zu einem Teil meiner "unbewussten" emotionalen Steuerung machen. Einfach, indem ich über mein Bewusstsein lange genug den Fokus auf dieses Thema lenke. Dann wird Innehalten zu einem Teil meiner Persönlichkeit und Identität.
Gelingt das, bin ich nicht frei von Situationen, die mir Angst machen, aber ich kann ihnen in einer anderen Haltung begegnen. In einer Haltung, die es erlaubt, schneller wieder mit mir und anderen auf eine gute Art in Beziehung zu kommen.