Das Gefühl der Ohnmacht ist wohl eines, dem man am liebsten für immer ausweichen würde. Doch wie bei so vielen Gefühlen zu denen wir freiwillig keine Nahebeziehung führen, zeigt sich bei genauerem Hinschauen etwas Überraschendes.
Gefühle in der Krise
Gestern war ich auf einem Abend zum Thema "Gefühle in der Krise". Eine Gruppe von ca. 30 Leuten hat sich getroffen, um sich diesem Thema zu widmen. Kollektiv wurden die Gefühle benannt, die zur Krise gehören - Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Leere, Angst, Erschöpfung, Enge, Scham, Frustration, und so weiter.
Jeder hat sich dann eines der Gefühle ausgesucht, zu dem er Beziehung aufnehmen wollte. Das Gefühl lag in Form eines Zettels am Boden. Man konnte sich zu diesem Gefühl positionieren und mit einem Zweiten darüber sprechen was die Kontaktaufnahme mit diesem Gefühl in einem hervorbringt. Jeder hatte 10 Minuten - dann wurde gewechselt.
Ich habe mir die Ohnmacht ausgesucht, weil sie für mich das Sinnbild des Nicht mehr Handeln Könnens ist - des "Nichts geht mehr" in der Krise, und weil ich wissen wollte, wo sie hingehört - im Ablauf der Krise.
Die Begegnung mit der Ohnmacht
Gleich zu Beginn der 10 Minuten hab ich mich auf den Zettel gestellt und dort bin ich geblieben. Ich wollte keinen Abstand - ich wollte direkt rein ins Gefühl.
Auf dem Zettel war mir sofort klar wo die Ohnmacht hin gehört. Sie markiert das Ende einer Phase, in der wir uns erschöpft haben - vor dem Loslassen. Die Phase, in der nichts mehr geht. Die Phase in der wir immer noch versuchen etwas festzuhalten - eine Situation, eine Vorstellung, eine Beziehung, ein Bild von uns selbst.
Wir sind erschöpft - haben eigentlich gar keine Kraft mehr, können aber noch nicht auslassen - noch nicht kapitulieren. Wir würden trotzdem immer noch weiter kämpfen -
- käme die Ohnmacht nicht.
Wir haben Angst, daß wir - wenn wir nicht mehr rudern einfach untergehen und sterben. Es fühlt sich auch an wie an einer Klippe. Wenn ich jetzt loslasse, falle ich tief und die Fantasie sagt, daß ich es nicht überlebe. Daß nichts mehr übrig bleibt. Es fühlt sich an wie ein Tod.
An diesem Punkt hat man weder die Kraft noch länger festzuhalten, noch den Mut loszulassen.
In dieser Phase kommt die Ohnmacht - wie eine warme Hand, die keine Aktivität mehr zuläßt - wie eine Decke. Jede weitere Aktivität wäre sinnlos, weil keine Kraft mehr da ist. Die Ohnmacht hält mich, bis ich bereit bin mich fallen zu lassen. Sie ist geduldig und ruhig.
Die Erschöpfung ruft die Ohnmacht auf den Plan - im Loslassen - im sich Fallen Lassen löst sie sich auf.
Der Fall
Nach dem Fallen Erleichterung. Liegend am Boden. Die Fantasie was passiert wenn ich falle, hat sich nicht bewahrheitet. Ich bin nicht ertrunken, weil ich nicht mehr rudere. Ich bin nicht gestorben, als ich von der Klippe gesprungen bin.
Ich bin angekommen - liegend am Boden, geerdet. Nichts mehr tun müssen - sich nicht mehr anstrengen etwas aufrecht zu erhalten, was sich nicht halten läßt. Angekommen in der Leere des Nichtwissens wie es von hier weiter geht. Leichter. Ich bin wieder bei mir - auch wenn ich keine Orientierung habe, wo es weiter geht. Die Ohnmacht ist hier vorbei. Sie hat ihren Dienst getan.
Die Ohnmacht fühlt sich groß, ruhig und weiblich an - eine Kraft, die dem Leben dient. Je früher ich mich der Ohnmacht ergebe, desto schneller komme ich wieder zu mir. In einen Zustand, in dem ich das Leben und mich wieder spüren kann.
Die Ohnmacht kommt vor dem Fall - auch die körperliche Ohnmacht. Die Ohnmacht wartet, bis wir bereit sind uns fallen zu lassen und einfach nur auszuruhen - liegend. Ohne Ziel. An dieser Stelle gibt es kein Ziel mehr. Nur Erholung.
Der Ohnmacht folgt die Leere - das Nichtwissen, in der wir lauschen können auf das was Neues kommt. Auch die Leere ist ein Gefühl, das wir nicht unbedingt haben wollen. Keine Orientierung zu haben macht Angst. Nicht zu wissen wo es weiter geht, ist schwer auszuhalten.
Wer bin ich nach dem Loslassen?
Die Blumen schließen ihre Köpfe, wenn Wolken die Sonne verdecken. Sie versuchen nicht zu blühen, wenn das Licht nicht da ist.
Sie warten.
Sie tun nichts.
In der Leere auszuharren, ohne zu wissen was kommt, und wer wir ab hier sein werden ist eine der schwersten Übungen in der Krise. Wir wissen noch nicht wie wir uns neu ordnen und was die Leere füllen wird. Wir wissen nur, daß das Alte vorbei ist. Dorthin können wir nicht zurück.
Wer den Mut hat zu entdecken, wer er in der neuen Welt ist - vorsichtig, und mit Neugier - ohne in hektisches Handeln auszubrechen, nutzt die Krise am besten. Auf diesem Weg ist Wachstum möglich. In der Anerkennung, daß etwas unwiderruflich vorbei ist. Wer Raum lassen kann für die Beziehung zu seinem neuen Selbst und sich darin kennenlernt, schöpft aus dem Angebot das die Leere ihm macht.
Am Ende der Leere entdeckt er, daß das alte Ich nicht gestorben ist. Es ist noch da. Aber es ist etwas Neues dazu in den Blick gekommen, daß das alte Ich ergänzt. Wenn wir die Leere so nutzen können, werden wir mehr. Wir wachsen, und unser Bewußtsein erweitert sich.
Wer in der Leere schnell wieder handelt läuft Gefahr wieder in alte Muster zurück zu fallen, und den gleichen Zirkel noch einmal zu durchlaufen.
Sich der Ohnmacht und der Leere zu ergeben und ja zu sagen führt in die Lösung. Denn jedes Gefühl dient - wenn wir es annehmen können - dem Leben. Jedes Gefühl - auch die schwierigsten - sind bei genauerer Betrachtung gute Gefühle. Jedes Gefühl ist in der Essenz ein Freund.