Wir gehen sehr leicht davon aus, dass die Perspektive, in der wir sind, normal ist. Jemand, der die gleiche Sache anders empfindet, mit dem stimmt etwas nicht. Der ist halt nicht normal.
Meine Perspektive kann beispielsweise sein - Horrorfilme sind eklig. Jemand anderer schaut sich Horrorfilme an. Das ist ja pervers. Warum geht der so mit sich um? Wozu quält er sich?
Dazu zwei kleine Geschichten: Ein guter Freund von mir ist ein Fan von Horrorfilmen. Und ich habe mit ihm darüber geredet, was die für ihn tun. Es gibt da innerhalb der Horrorfilme ein ganzes Genre, das dramaturgisch so aufgebaut ist, dass jemand ewig gequält wird und in der Ohnmacht ist - und irgendwann im Lauf des Films kippt das. Der Gequälte kann sich aus der Ohnmacht befreien und kann das Monster zur Strecke bringen. Und es ist genau diese Dramaturgie, die für meinen Freund wichtig ist. Denn
er ist mit einem Vater aufgewachsen, der tatsächlich wie ein Monster war und er kennt die unerträgliche Ohnmacht. Die Filme bestärken ihn darin, dass er sich wehren kann, dass es einen Ausweg gibt, dass er nicht Opfer bleiben muss, dass er selber etwas tun kann, auch wenn ihm niemand zu Hilfe kommt.
So sind aus einer anderen Perspektive Horrorfilme symbolische Befreiungsschläge, die mich in meine Selbstermächtigung bringen. Wenn ich diese Perspektive verstehen und mitfühlen kann, kann ich in Beziehung gehen. Beide unsere Perspektiven behalten ihre Gültigkeit.
Jeder in seiner eigenen "Normalität", mit seiner eigenen Prägung und Geschichte und daher trennt es mich nur von anderen, wenn ich über ihre urteile. Jedes Urteil über die Perspektive eines anderen Menschen sagt ihm, dass er so wie er ist, falsch ist. Je mehr ich im Urteil und im Selbsturteil bin, umso mehr bin ich von Beziehung getrennt.
Achtsamkeit bedeutet, die Realität insofern anzuerkennen, dass ich in dem Bewusstsein lebe, dass jeder Mensch in einer anderen Wirklichkeit lebt und dass alle Dinge für jeden Menschen individuell etwas anderes bedeuten und dass das völlig okay ist.
Achtsamkeit ist eine Haltung in Beziehung, in der jeder lernt, sich selbst zu verstehen und das Urteil gegenüber sich selbst und dem anderen dadurch ersetzt, dass er ihn oder sie verstehen möchte. Aus den unterschiedlichen Normalitäten entsteht in der Achtsamkeit nie der Zwang, dass einer in der Normalität des anderen leben muss. Denn dieser Zwang unterbricht wiederum Beziehung. Es entsteht stattdessen ein Umgang mit den unterschiedlichen Perspektiven, in denen jeder mit gutem Gewissen so bleiben kann, wie er ist.
Mich zeigen, statt zu urteilen
Wenn ich mir einen Film mit Freunden anschaue und aus dem Kino komme, sage ich dementsprechend nicht, „das war ein schrecklicher Film" und der oder die Darstellerin war „fürchterlich, was für eine Verschwendung von Geld". Sondern ich sage „mir hat der Film nicht gefallen“ und „mir ist dieser oder jeder Darsteller in Filmen nie sympathisch und daran habe ich mich auch bei dem Film wieder aufgehängt.“
Das ist der Unterschied zwischen „Urteil" über den Film im ersten Fall und „mich zeigen“ im zweiten Fall. Das Urteil macht eng. Mein Gegenüber merkt, wenn er oder sie den Film anders gesehen hat, kommt es leicht zum Konflikt. Im zweiten Fall ist es leichter zu sagen, "ich bin ein Fan von diesem Darsteller. Ich liebe die Filme, in denen er spielt." Und dann kann man wieder schauen - was ist es, was dir gefällt, was ist es, was mir Probleme macht, wenn ich ihn sehe. Und wir können mit unseren unterschiedlichen Empfindungen in Beziehung bleiben.
Öffne ich mich so für die Beziehung zu einer anderen Normalität, dann brauche ich kein Urteil und kein Selbsturteil. Ich habe einfach nur eine andere Geschichte, die mich in Bezug auf eine Sache in eine andere Perspektive, in ein anderes Gefühl führt. In dieser Haltung bleibe ich weit und daraus entsteht, dass ich mich in mir eventuell für
eine andere Perspektive öffne und meine Normalität erweitere. Dann kann ich den Film eventuell ein Stück weit durch die Augen meines Gegenübers erleben und kann Aspekte an einem Darsteller entdecken, die ich aus meiner Perspektive nicht wahrnehmen konnte. Und vielleicht wird mir der Darsteller dadurch sogar sympathisch.
Meine Normalität, mein Bewusstsein wird also weiter „und“ ich bin mit dem Menschen in der anderen Normalität weiterhin gut in Beziehung.
Jeder Zwang trennt Beziehung
Jemand anderen in meine Normalität zu zwingen oder das Gefühl zu haben, dass ich in
in die Normalität eines anderen gezwungen werde, trennt Beziehung und bringt mich mit mir selbst und anderen in Konflikt.
Urteil, Wertung, Vorwurf, Anspruch und meine Interpretation der Motivationen meines Gegenübers - sie alle trennen Beziehung und führen in Konflikt. Denn sobald ich ein Urteil über meine Gefühle bekomme, ziehe ich mich zurück oder gehe in den Angriff. Auf diese Weise wird niemand mehr sichtbar, denn ich höre auf, mich zu zeigen, wenn mein Gegenüber ein Urteil über mich hat. Übernehme ich die Urteile anderer in mir, schäme ich mich für meine Gefühle und das trennt mich von mir selbst. Und so fühlen wir uns dann in Beziehung allein und nicht gesehen.
Sich bewusst zu sein, dass jeder Mensch in seiner ganz eigenen Normalität lebt und dass das absolut okay ist und dass Beziehung heißt, dass wir lernen unsere "verschiedenen" Normalitäten als Normalität zu sehen, ist die Bewusstheit, in der ich mich in der Achtsamkeit auf eine Realität beziehe, die ohnehin da ist.
Ohne Urteil und Wertung gehe ich mit dieser Realität so um, dass ich mit mir und anderen gut in Beziehung bleiben kann und mich verbunden fühle.
Auf diese Weise kann ich jemandem, der anderer Meinung ist, ohne Angst begegnen und unsere unterschiedlichen Normalitäten können sich gegenseitig bereichern.
Übung:
Achte diese Woche darauf, wo du aus deiner Normalität heraus auf andere mit Unverständnis reagierst und wie dich das mit dir selbst und anderen in Konflikt bringt.
Vielleicht empfindest du dich auch manchmal selbst als Alien, wenn du in einer anderen Normalität lebst, als andere und kommst in ein Urteil über dich selbst und kannst dir selbst kein Verständnis entgegenbringen. Dann trennt dich dein Selbsturteil von dir selbst.
Überall, wo dir Urteil über andere und dir selbst begegnet, achte darauf, welchen Preis das für Beziehung und Selbstbeziehung hat und schau, ob es einen Weg gibt, dir selbst und anderen mit Verständnis und Mitgefühl zu begegnen.