Mich wieder spüren können - das ist eine Sehnsucht, die viele Menschen haben. Wie kommt es dazu, dass ich mich nicht mehr spüre? Und wie geht das eigentlich, sich nicht zu spüren?
Spüren hat ganz viel mit Lebendigkeit und Entspanntheit zu tun. Je angespannter ich bin, desto weniger spüre ich mich. Anspannung und Verspannung sind Stressphänomene, die mich von mir selbst trennen - emotional und körperlich.
Wie kommt dieser Effekt zustande?
Wie unsere Muskeln funktionieren
Unsere Muskeln sind Fasern, die ineinander gleiten, wenn wir sie anspannen. Dann gleiten sie in der Entspannung wieder auseinander. Halten wir im Stress Anspannung zu lang, können wichtige Nährstoffe und Gewebsflüssigkeiten an der Stelle nicht mehr fließen. Dadurch kommt es zu einem Stau und durch diesen Stau entstehen kleine Hügel, die dafür sorgen, dass die Fasern nicht mehr auseinander gleiten können.
So werden durch zu tiefe oder lang anhaltende Anspannungen Verspannungen ausgelöst. Der Muskel verliert biologisch seine Fähigkeit, sich zu entspannen. Und damit verlieren wir leider auch emotional die Möglichkeit, wieder gut zu uns zu kommen.
Wir bleiben so über den Körper in unseren Stressgefühlen gefangen.
Warum spüre ich mich dann nicht mehr?
Es gibt zwei Dinge, die durch Anspannung und Verspannung passieren. Durch die Anspannung verliere ich die Fähigkeit, bestimmte Gefühle zu verkörpern. Wir verkörpern alle unsere Gefühle. Das heißt, zu jedem Gefühl gibt es ein zugehöriges Anspannungsmuster im Körper.
Um "alle" Gefühle verkörpern zu können, brauchen wir einen weiten und flexiblen Körper. Einen Körper, der auch ganz in die Entspannung gehen kann. Werden wir in der Anspannung gehalten, können wir viele weiche und freudige Gefühle nicht mehr verkörpern und daher auch nicht mehr spüren.
Je verspannter wir sind, desto abgeschnittener sind wir von vielen Gefühlen. Je angespannter wir sind, desto mehr verharren wir in "einem" dominierenden Gefühl, das auch unsere Gedanken bestimmt. Wir sind dann sozusagen Gefangene dieses Gefühls und der Perspektive, die es aufs Leben hat.
Ein zweiter Aspekt, wie wir uns nicht spüren ist, dass wir nur dann lebendige Rückmeldungen von unseren Muskeln bekommen, wenn wir in unserem Körper einen Unterschied zwischen Anspannung und Entspannung wahrnehmen können. Doch dieser Unterschied fällt bei starken Verspannungen und Anspannungen weg.
Auch die Energie kann in der dichten Materie oft nicht fließen.
So fühlen wir uns tatsächlich mit stark verspannten Teilen unseres Körpers oft nicht verbunden. Ein Bein beispielsweise kann sich eng und hart wie ein Holzbein anfühlen und das andere ganz weit, entspannt und weich. Überall, wo wir auf diese Weise in unserem Körper getrennt sind und uns nicht mehr spüren, verlieren wir immer im gleichen Ausmaß die Möglichkeit zu fühlen.
Wie wirkt das auf Beziehung?
Durch Verspannungen kommt es zu einem Selbstverlust. Sie kosten mich also Selbstbeziehung. Und dieser Selbstverlust zieht leider einen Beziehungsverlust mit anderen nach sich. Je verspannter wir sind, desto konfliktreicher wird unser Leben und unsere Kommunikation. Denn nur ein entspannter Körper ist ein Resonanzkörper, der die Gefühle, die sein Gegenüber verkörpert, in sich wahrnehmen kann.
Ich spüre also nicht nur mich nicht mehr. Ich kann auch mein Gegenüber nicht mehr spüren.
Meine Gefühle wahrnehmen
Tatsächlich nehmen wir unsere Gefühle wahr, weil wir unsere Körperwahrnehmungen interpretieren. Je angespannter ich bin, umso mehr denke ich und umso weniger bekomme ich mit, was ich fühle. Das hat zur Folge, dass ich meine natürlichen Grenzen nicht mehr spüre und über sie hinaus gehe.
Mache ich das über Jahre, werde ich ein sehr rationaler Mensch, der alles über den Kopf regelt und der auch andere über den Verstand liest. Gleichzeitig gibt es darin immer etwas, wodurch ich mich von der Welt und mir selbst getrennt fühle. Es fehlt darin ein Gefühl von Lebendigkeit, und Freude ist oft kaum zugänglich.
Dieses über die eigenen Grenzen hinausgehen hat auch etwas mit dem Phänomen Burn-out zu tun. In der permanenten Anspannung arbeite ich auf Kosten meiner Ressourcen, da sich mein Körper und meine Psyche nie richtig regenerieren können.
So kommt es dazu, dass ich lange Zeit scheinbar einwandfrei funktioniere - und auf einmal geht nichts mehr. Dieses nichts geht mehr ist Ausdruck dessen, dass der Körper einen Zustand der permanenten unbewussten Selbstverletzung stoppt, damit sich Körper und Psyche wieder erholen können.
Wie ich lernen kann, mich wieder zu spüren, dazu ein paar Sätze im Abschnitt Übung.
Übung:
In Konflikten dient der Energieaufbau, der in die Anspannungen geht, der Entladung durch eine körperliche Auseinandersetzung. So ist unser psychischer und physischer Konfliktmechanismus seit hunderttausenden Jahren gebaut. Diese körperliche Auseinandersetzung findet aber in der zivilisierten Realität so gut wie nie statt.
So bleibt die Energieaktivierung in uns stecken. Jede Art von körperlicher Verausgabung durch Sport und jede Art von nachhaltiger Körpersensibilisierung hilft, in einen Körper zu finden, indem ich mich wieder selbst spüren kann.
Neben Sport kann ich achtsames Yoga empfehlen, das eine große Bewusstheit in Bezug auf die Einheit von körperlichen und emotionalen Persönlichkeitsmustern hat. Was ich persönlich ebenfalls sehr viel nutze, ist Körperarbeit über Faszienrollen, die Grinberg Methode, Feldenkrais und biodynamische Craniosakraltherapie. Jede dieser Methoden hat ihren eigenen Ansatz, um tief liegende Anspannungen im Körper nachhaltig zu lösen.
Wer sich selbst wieder spüren möchte, der findet auf diesen Weg über den Körper. Je mehr Weite im Körper wieder nachhaltig entsteht, desto weiter, flexibler, herzlicher, lebendiger und verbundener erleben wir die Welt.