Es scheint vielleicht ein wenig seltsam, Pubertät und Midlife-Crisis in eine Überschrift zu packen, aber sie haben aus meiner Sicht viel miteinander zu tun.
Unser Leben besteht oft schon früh aus vielen Zwängen. Wie ich zu sein habe, damit ich dazu gehören darf, was ich erfüllen muss, was ich lernen muss, wie ich mich benehmen muss. In den ersten 12, 13 Jahren meines Lebens steht das, was ich machen muss, oft in einem eklatanten Widerspruch dazu, was ich machen möchte, was mir Spass macht, was mir entspricht. In einem Widerspruch zu dem, wer ich bin und wo ich gern in Beziehung gehe.
Wo das, wer ich bin und gern mache mit dem zusammenfällt, was ich machen muss, dort geht es mir gut. Ich komme zu einem guten Selbstbild und Selbstwert. In der Pubertät muss ich dann gar nicht groß rebellieren. Denn das Leben, das ich habe, entspricht mir.
Nach meinen Bedürfnissen leben
Doch wie selten ist das der Fall. Ich erinnere mich, als meine damals 11-jährige Tochter mit mir in ihrem Kinderzimmer saß und mir gesagt hat: "Was ich nicht verstehe - warum haben sich die Menschen ihr Leben so eingerichtet, wenn es doch gar nicht ihren Bedürfnissen entspricht?"
In dem Moment, wo meine Tochter diesen Satz ausgesprochen hat, war mir klar, wie tief die Wahrheit war, die sie damit berührt hat. Wir wachsen so auf, dass wir lernen die Bedürfnisse der Gesellschaft und anderer zu erfüllen und machen gleichzeitig die Erfahrung, dass unsere Bedürfnisse dabei oft nicht berücksichtigt werden. Heute ist meine Tochter 18 und ideologisch ein sehr netter überzeugter Punk. Auf ihrer Tür hängt ein Zettel mit der Aufschrift "They say I gotta respect a system, but there ain't no respect in that system for me."
Diese Erfahrung machen wir oft zu Hause, in Schulsystemen und in unseren Arbeitswelten. Wenn ein System nicht auf die Bedürfnisse derer achtet, die in ihm groß werden, kommt es immer zu einem Verrat des Selbst und es wächst innerer Widerstand. Je mehr ich zu Dingen gezwungen werde, die mir und meinen Bedürfnissen nicht entsprechen, desto stärker ist der innere Widerstand und desto lauter wird der Protest in der Pubertät.
Was passiert in der Pubertät?
In der Pubertät erweitert sich mein Horizont. Ich mache die Erfahrung, dass es auch noch andere Arten und Weisen gibt zu leben, als ich das Zuhause kennengelernt habe. Ich entdecke Vorbilder, die ein Leben gelebt haben, in dem sie sich selbst treu waren.
Ich sehe, es gibt andere Arten zu leben, als mir mein Zuhause oder das Schulsystem bisher vermittelt hat. Ich sammle Vorbilder und Idole, die etwas von dem leben können, das in mir lebendig ist, das ich aber nie ausdrücken konnte. Ich identifiziere mich mit Menschen, die etwas leben, das "für mich" Bedeutung hat, "mir" Freude macht, das "meinen" Werten entspricht.
Da ich nicht mehr in gleichem Maß von meinen Eltern abhängig bin wie vorher, traue ich mich auch, mich zu zeigen wie ich bin. Auch wenn das gar nichts mit dem zu tun hat, wie mich meine Eltern haben wollen. Das ist der Mensch, der ich bin. Und ich möchte, dass du mit dem in Beziehung gehst! Ich möchte ich selbst sein und nicht das, was andere glauben, was ich sein sollte. Ich möchte authentisch sein, im Einklang mit dem was mir guttut und wofür ich stehe - auch wenn das anders ist, als das, was meine Eltern leben. Und ich möchte so angenommen werden, wie ich bin. Das ist die tiefe Sehnsucht in uns allen. Angenommen werden wie ich bin, statt angenommen zu werden dafür, was ich leiste oder dafür, dass ich brav bin, mich anpasse,.....
In der Pubertät kommen wir also mit unserem wahrten Selbst in Verbindung und haben im besten Fall den Mut uns darin zu zeigen. Genau aus dem Grund ist die Pubertät so eine wichtige Phase für die eigene Identitätsfindung.
Was hat das alles mit der Midlife-Crisis zu tun?
Nach der Pubertät beginnt unser Erwachsenenleben. Und mit dem Erwachsenenleben kommen oft neue und andere Zwangssysteme und Verpflichtungen. Es ist alles andere als leicht, mit allen Anforderungen des Erwachsenenlebens so zurechtzukommen, dass man sich immer treu bleibt. Man geht mit den besten Absichten ins Erwachsenenleben und oft mit romantischen Vorstellungen. Doch die vielen Verpflichtungen, die Verantwortungen und die Systeme, in die wir eingebunden sind, führen dazu, dass ich mich oft in einem Leben wiederfinde, in dem ich mich wieder selbst verrate, auch wenn es das letzte ist, was ich wollte.
Der österreichische Kabarettist Klaus Eckel hat das in einem Programm sehr schön auf den Punkt gebracht. Er hat mit Blick auf seine linke Hand gesagt: "Das ist der, der ich werden wollte." Dann hat er zu seiner rechten Hand geschaut und gesagt: "Das ist der, der ich geworden bin. Also ehrlich gesagt, die kennen sich nicht einmal vom Sehen."
Genau dieses Gefühl beherrscht oft die mittleren Jahre des Lebens. Wohnung abbezahlen, zwei Kinder ernähren, dafür ewig in der Arbeit sein, vielleicht dabei noch für die Eltern sorgen müssen, die alt oder krank werden. Dazu der Zwang, erfolgreich sein zu müssen, zumindest im monetären Sinne.
Diese Umstände führen dazu, dass wir unser Selbst, unsere Bedürfnisse und das, wer wir wirklich sind, als Erwachsene oft über lange Strecken aus den Augen verlieren. Oft leben wir in dem Gefühl, nur noch zu funktionieren. Das ist nur ein anderes Wort für - ich mache noch mit, aber ich lebe eigentlich nicht mehr. Mein wahres Selbst ist tot.
So machen wir auch als Erwachsene die Erfahrung, dass wir ohnmächtig in Systemen leben, die unserer Bedürfnisse oft nicht im Auge haben und die uns nicht respektieren, aber Respekt verlangen.
Erschöpfung
Je länger ich in diesem Lebensgefühl feststecke, desto erschöpfender ist das. Ich spüre mich nicht mehr - oder nur noch über meine Verspannungen. Ich kann mich nicht mehr freuen, meine Lebendigkeit ist weg und ich fühle mich gefangen als Opfer der Umstände.
Wenn mein Leben zu viel Selbstverrat beinhaltet, bin ich in einem Erschöpfungssystem und mit der Zeit macht nichts mehr Sinn. Das ist mein Blick darauf, was es heißt, in der Midlife-Crisis zu stecken.
Interessanterweise ist es dann oft ein energetischer Zusammenbruch, wie ein Burn-Out, der mich dazu bringt, wieder neu auf mein Leben zu schauen und mich zu fragen, ob es nicht ein Leben zu finden gibt, das mir und meinen Bedürfnissen besser entspricht. In dem ich mehr Freude und weniger Stress erleben kann.
In der Weise zwingt mich zwischen 45 und 55 oft eine Krise dazu, mich wieder auf mich selbst zu besinnen. Und dann komme ich zu den gleichen grundsätzlichen Fragen zurück, die mir schon in der Pubertät begegnet sind. Wer bin ich und wie will ich eigentlich leben? So, dass es mir guttut.
Es gibt ein Leben danach
Oft werden auch die äußeren Verpflichtungen zwischen 45 und 55 ein bisschen weniger. Die Kinder sind aus dem Haus, die Wohnung kann kleiner werden. Ich muss nicht mehr so viel verdienen. Einige Verpflichtungen fallen weg. Es kann also auch sein, dass wieder mehr Zeit und Freiraum da ist und so begegne ich mir wieder öfter selber.
Diese Selbstbegegnung führt mich in der Regel wie von allein zu der Frage, was ich jetzt eigentlich anstellen möchte mit meinem Leben. Welches Leben möchte ich eigentlich leben? Worauf habe ich ganz persönlich Lust? Mit wem will ich mein Leben teilen? Was sind meine Bedürfnisse? Was ist wesentlich? Was sind meine Werte?
Gar nicht so selten taucht in dieser Lebensphase die Erinnerung an die Pubertät auf, an die Zeit, in der mir das Leben noch bevorstand - und an die Werte, Idole, Wünsche und Bedürfnisse, die ich damals hatte - in der ersten bewussten Entdeckung meiner Identität.
Manchmal entdecke ich da eine junge Version von mir selbst, die in mir immer noch lebendig ist. In vielem gleicht also die Phase nach der Midlife-Crisis dem Innehalten in der Pubertät und dem Reinwachsen in die Selbstbestimmung. Und so stellt sich wieder die Frage, wie ich ein Leben leben kann, das möglichst gut meinen Bedürfnissen entspricht.
Mir selbst treu sein
Die Midlife-Crisis, die mich auch persönlich heftig gebeutelt hat. Sie hat bei mir zu vielen tiefgehenden Veränderungen in meinem Leben geführt. Mir selbst treu zu sein ist in diesem Veränderungsprozess mein Kompass geworden.
Konsequent so zu leben, wie es mir guttut. Mich selbst in dem was ich tue nicht zu verraten. Diese Werte waren mir immer wichtig, aber ich konnte sie nicht immer leben.
Jetzt habe ich noch einmal die Chance zu haben, möglichst unabhängig von Zwängen, Abhängigkeiten und Verpflichtungen zu leben - das tut mir gut.
Übung:
Wenn eine Reise in die eigene Authentizität bei dir gerade ein wichtiges Thema ist, dann kannst du folgende Dinge reflektieren:
1) Erinnere dich an deine Pubertät und daran wer du sein wolltest in deinem Leben. Mache richtig eine kleine Reise zurück in diese Welt mit allem, was zu ihr gehört hat. Schau, was davon heute noch für dich wichtig ist, aber vielleicht nie gelebt wurde,
2) Mache eine Liste der Werte, die in deinem Leben wichtig sind und achte darauf, wie gut du diese Werte in deiner Arbeit und in deinen wichtigen Beziehungen leben kannst.
3) Worauf hast du Lust? Was macht dir Freude? Diese Stimme ist dein wahres Ich. Denn alles, was mir Freude macht, damit gehst du gern in Beziehung. Das Leben mit gutem Gewissen konsequent danach auszurichten, was dir Freude macht, bringt dich nicht nur mit dir selbst gut in Beziehung, sondern auch mit den Menschen, die dich so erleben. Freude verbindet dich mit anderen und bringt Herzlichkeit, Kreativität und Lebendigkeit.
Sei in dem, was dir Freude macht so spezifisch und genau wie möglich. Je genauer du bist, desto tiefer ist die Selbsterkenntnis.
Diese drei Punkte sind ein kleiner Wegweiser in ein Leben, das dir guttut.