Die Frage nach dem Sinn war lange Zeit in meinem Leben etwas Abstraktes und Philosophisches. Erst durch die Achtsamkeit habe ich für mich ganz praktisch herausgefunden, was ein sinnvolles Leben ausmacht. Nämlich ganz einfach ein Leben, in dem ich mit allen Sinnen anwesend sein möchte.
Die deutsche Sprache hat ja in vielen Fällen eine tiefe Weisheit. Und so ist es die einfache Verbindung zwischen den Sinnen und dem Wort Sinn, die mich auf die Spur gebracht hat.
Unsere emotionale Steuerung
Als Säugetiere haben wir eine Emotionssteuerung, die unser ganzes Leben immer nur auf zwei wichtige emotionale Faktoren achtet.
Der erste Faktor: Bin ich sicher oder bin ich nicht sicher? Diese Steuerung bezeichne ich als das Angstsystem.
Mein emotionales Gehirn möchte mich immer vor Dingen beschützen, die mir irgendwann in meinem Leben mal Angst gemacht haben. Kaum taucht etwas auf, dass mich an etwas erinnert, was mir mal Angst gemacht hat, stellt mein emotionales Gehirn ein Gefühl ein, das den Kontakt unterbricht. Es möchte mich von dort weg bringen, da rausholen.
Das gilt für alle Sinne. Rieche ich etwas, was faul oder giftig sein könnte, wende ich mich sofort ab. Rieche ich etwas Gutes, gehe ich mit der Nase gern näher und sauge den Geruch auf. Genauso ist es mit dem Tastsinn, mit dem Schmecken, mit dem Sehen und Hören.
Unsere Sinne wenden sich also von allem ab, was uns Angst macht. Sie blenden es aus. Wenn mir etwas Angst macht, kann ich nur unter einer Bedingung anwesend bleiben - unter Zwang. Ich muss also gezwungen werden oder mich selber zwingen.
Wenn ich an meinen Mathematikunterricht in der Schule denke, dann erinnere ich mich noch sehr genau daran, wie abwesend ich während des Unterrichts war, um nur ja nichts aufnehmen zu müssen, von dem ich überzeugt war, es ohnehin nicht zu verstehen. Dieses Wegblenden, das sich ausblenden, ist einfach ein Selbstschutz des emotionalen Gehirns. Aber der Zwang Schule besteht. Also habe ich mich immer ausgeblendet.
Doch nur weil ich vor etwas Bestimmten keine Angst habe, heißt das noch nicht, dass ich diese Dinge auch mache. Es muss also noch eine zweite Steuerung geben, die darüber entscheidet, worauf ich zugehe und worauf nicht.
Der zweite Faktor: Macht mir das Freude, oder nicht? Dieses zweite System ist das Motivationssystem.
Auch diese Steuerung bezieht sich immer auf Vorerfahrungen. Hat mir Fahrradfahren früher Spaß gemacht, dann begegne ich dem Fahrradfahren auch jetzt mit Freude. Bin ich von meinem Vater am Fahrrad immer zu Höchstleistungen gezwungen, die mir gar nicht wichtig waren, werde ich auch später am Fahrradfahren wenig Freude finden und es als Erwachsener gar nicht erst machen.
Habe ich hingegen auf etwas Lust, bereitet es mir Freude, gehe ich gern damit in Beziehung. Dann springe ich sofort auf und bin sofort mit allen Sinnen bei der Sache.
Bereitet mir etwas keine Freude und eine Tätigkeit ist nur mit großer Unlust verbunden, dann muss ich mich - wie schon zuvor beim Angstsystem - dazu zwingen. Denn mein emotionales Gehirn würde mich diese Sache nie machen lassen.
Entscheidungen, die mit mir im Einklang sind
Habe ich alle wichtigen Lebensbereiche in meinem Leben so geregelt, dass ich sie mit wenig Angst und viel Freude erleben kann, dann empfinde ich mein Leben als sinnvoll.
Denn es ist offensichtlich ein Leben, in dem ich mit allen Sinnen anwesend sein möchte.
Diese Art von Leben, in der ich mich nicht zwingen muss, kostet mich keine Energie. Es bringt mir Energie. Je mehr ich mich zu Dingen zwingen muss, desto autoaggressiver bin ich und komme daher mit mir und anderen immer wieder in Konflikt. Dabei verliere ich viel Energie und alles kostet mich viel Kraft. So komme ich in einen Erschöpfungsmodus.
Überall dort, wo ich mich nicht zwingen muss, bin ich entspannt und gut mit mir und anderen in Beziehung. Alle meine Sinne wollen in diesem Leben anwesend sein. So befinde ich mich in einem sinnvollen Leben, indem ich mich lebendig und verbunden fühle.
Woher weiß ich, ob ich Angst oder Freude empfinde?
Auch wenn es sich beim sinnvollen Leben um eine unbewusste Emotionssteuerung handelt, ist es ist ganz einfach, beide Systeme sehr bewusst auszulesen.
Wie viel Angst ich habe, erlebe ich über Anspannung und Entspannung in meinem Körper. Denn alle Gefühle, die mit Angst zu tun haben, führen mich in Anspannung und Verspannung. Ich kann mich also fragen, wie entspannt oder angespannt mein Gesamtzustand auf einer Skala von null bis zehn ist.
Null ist ganz entspannt, zehn ist maximal angespannt. Alles, was über 5 ist, bringt mich in starke Konflikte mit mir und anderen. Je höher die Zahl, umso stärker die Konflikte und umso stärker der Zwang.
Ich kann diese Frage auch in Bezug auf einzelne Aspekte oder Themen in meinem Leben stellen. Das führt schnell zu Erkenntnissen, welche Themen in meinem Leben die meiste Anspannung mit sich bringen.
Auf der Motivationsskala von null bis zehn empfinde ich bei null gar keine Freude und bei zehn maximale Freude. Auch hier "beginne" ich mich überhaupt mal in Bewegung zu setzen, wenn ich die 5 erreicht habe. Je höher der Wert, desto besser.
Die Freude kann ich ganz einfach an meinem Lächeln und Lachen ablesen, an meiner Begeisterung und Leidenschaft für eine Sache.
So sind diese beiden Systeme so etwas wie der innere Kompass für ein sinnvolles Leben im Einklang mit mir.
Noch ein wichtiger Faktor für den Sinn
Darüber hinaus gibt es noch einen weiteren ganz entscheidenden Faktor dafür, ob ich mein Leben als sinnvoll erachte. Wir sind alle soziale Wesen. Gelungene Beziehungen und Zugehörigkeit sind wichtig, um unser Leben als sinnvoll zu erleben. Das ist ein ganz tiefes Grundbedürfnis vom ersten bis zum letzten Atemzug.
Wenn das, was ich mache, dazu beiträgt, das Leben von anderen zu verbessern und zu verschönern, dann rundet sich die Frage nach dem Sinn auch in der Tiefe ab.
Ein Leben mit wenig Angst und viel Freude, wird also noch wesentlich sinnvoller, wenn ich etwas mache, was anderen Menschen oder der Welt gut dient.
So weit sehe ich in meinem Leben, wenn es um die Frage nach dem Sinn geht.
Alle drei Aspekte versuche ich so gut bewusst und gut wie möglich zu leben.
Übung:
Schaue auf dein Leben und deine Erfahrungen durch die Brille dieses Modells. Vielleicht kann es ein paar Dinge erklären, die vorher unklar waren.
Wenn dem so ist, ergeben sich gute Möglichkeiten, ganz praktische wichtige Lebensbereiche Stück für Stück nach den oben genannten Prinzipien auszurichten und so Stück für Stück in ein sinnvolles Leben zu finden.
Jeder kleine Schritt in eine gute Richtung hilft, das Lebensgefühl positiv zu verändern. Gelingt es mir, mein Leben nach der Frage "Was tut mir gut?", auszurichten, lade ich nicht nur Sinn, sondern auch Lebensfreude und Lebendigkeit ein.
"Was tut mir gut?" hat für mich nichts mit Egoismus zu tun. Denn wenn ich darauf achte, was mir guttut, werde ich mich auch mit Menschen und Tätigkeiten umgeben, mit denen ich teilen kann, was mir guttut.