Wer bin ich? Das ist eine ganz zentrale Frage in der Achtsamkeit. Kaum macht man sich darüber in der Tiefe Gedanken, wird es schnell verwirrend. Hier der Versuch einer Orientierung.
Tatsache ist, dass mein Bewusstsein zu jedem gegebenen Punkt nur ein bis höchstens drei Vorgänge in der Aufmerksamkeit halten kann. In unserer Kultur identifizieren wir uns gern mit diesem engen Ausschnitt unserer Persönlichkeit. Mit dem Teil von uns, der etwas will, der einen Plan hat, der ein Ziel hat, und der glaubt den Weg zu kennen. Mit dem Teil der glaubt, er ist der Herr seines Schicksals, das er durch Willen und Intelligenz steuert.
Doch was uns viel stärker steuert, liegt in unserem Unbewussten.
Bin ich mein Bewusstsein?
Ein einfaches Beispiel:
Wenn ich Auto fahre, nehme ich Ampeln, Verkehrssituation, Fußgänger, die Wettersituation, Verkehrszeichen, Gas geben, Kupplung, Rückspiegel, und vieles mehr war, während das Radio läuft, und ich ein bestimmtes Ziel habe, dem ich ja folgen muss. Vielleicht unterhalte ich mich sogar noch.
Interessanterweise kann ich eine halbe Stunde Auto fahren, ohne dass „ich“ mitbekomme, was ich da alles mache. „Ich“ habe während der Zeit vielleicht an jemanden gedacht oder mir Gedanken gemacht, was ich heute Abend koche. Aber bin „ich“ nicht auch Auto gefahren?
Wie beschränkt das Bewusstsein ist, merkt jeder, der lernt Auto zu fahren. Bewusst zu „wissen“ was ich mit meinen Füßen und meinen Händen mache und gleichzeitig noch auf Gefahrensituationen, den Rückspiegel und Verkehrszeichen zu achten, ist am Anfang ausgeschlossen. "Ich" bin überfordert.
Wenn ich Autofahren gelernt habe geht auf einmal alles „automatisch“. Etwas in mir hat abgespeichert, wie ich die ganzen Vorgänge die zum Autofahren gehören ausführe und koordiniere.
Bin ich also mein Bewußtsein, oder bin ich zu jedem Zeitpunkt meines Lebens die Summe aller Vorgänge in mir? Die Summe aller Gefühle, Erfahrungen, Wahrnehmungen meines Lebens, die mein Leben in eine bestimmte Richtung lenken, und das was ich in der Vergangenheit über ähnliche Vorgänge gelernt habe?
Es lebt
In der Achtsamkeit stellen wir fest, dass nicht wir atmen, sondern "es" atmet. Wir müssen nichts dazu tun. So wie "es" Auto fährt, während unser Bewusstsein sich mit anderen Dingen beschäftigt.
In Wirklichkeit ist es mit fast allem so. "Es" denkt, "es" fühlt, "es" nimmt wahr mit allen Sinnen, und unser Bewußtsein nimmt zu jedem Zeitpunkt nur einen minimalen Ausschnitt von dem wahr, was „ich“ ist. Unser Unbewusstes ist auch in allen seinen Reaktionen schneller und kann zu jedem Zeitpunkt eine Unzahl an Informationen wahrnehmen und nach ihrer Wichtigkeit ordnen. Nur wenige dieser Dinge dringen dabei ins Bewusstsein.
Und dazu kommt - unser Bewußtsein hat ein enges Selbstbild, indem es sich immer gerade mit dem identifiziert, was es gerade bewusst wahrnimmt.
Es sagt, „ich habe Angst“ - und dann scheint es außer der Angst kaum noch was zu geben. Denn sobald ich mich mit der Angst identifiziere, ist alles andere was „ich“ zu dem Zeitpunkt bin ausgeblendet, oder zumindest eingeschränkt. Es existiert weiter, aber unser Bewusstsein kann es nicht wahrnehmen.
Wir durchleben eine Situation in Angst. Kaum ist sie vorbei, schlagen wir uns auf die Stirn, weil uns einfällt was wir hätten machen oder sagen können. Dieses unbewußte Wissen war aber anscheinend durch die Angst blockiert, die unser Bewusstsein besetzt hatte.
Was passiert durch die Praxis der Achtsamkeit?
Wenn wir auf das Beispiel mit dem Auto fahren zurück kommen, scheint es fast so, daß das Beste, was das Bewusstsein machen kann darin besteht, aus dem Weg zu gehen. Im Vertrauen darauf, dass alle Teile des Ganzen zusammen die Sache gut machen.
Ein Dirigent im Orchester, der kein einziges Instrument selber spielt, hat trotzdem entscheidenden Einfluß auf den Klang des Orchesters.
So ist es auch mit dem Bewusstsein.
Dazu ein Zitat von Henry Ford:
„Egal ob du glaubst, dass du etwas kannst, oder ob du glaubst, dass du etwas nicht kannst - du hast Recht.“
Vertrauen
Vertrauen spielt eine große Rolle. Wenn mein Bewußtsein meinen Gedanken, Gefühlen, meinem Körper, meinem Unbewussten vertrauen kann, dass sie gut arbeiten, dann ist mein beschränktes Bewußtsein frei den Moment wahrzunehmen wie er ist - mit allen Sinnen. Dann mache ich eine „sinn“volle Erfahrung.
Ich erlebe den Augenblick - sprich - ich erlebe im wörtlichen Sinn das, was meine Augen erblicken, was meine Sinne wahrnehmen. Ich bin in Kontakt mit dem was ist.
Wenn ich kein Vertrauen in meine Gedanken und Gefühle habe, zweifle ich . Dann bin ich mit der Angst identifiziert. Ich versuche Situationen im Vorhinein durch exzessives Vordenken zu kontrollieren, mache mir einen Plan - und mein Bewußtsein ist dabei so aktiv, dass ich mit dem Augenblick und meinen eigentlichen Fähigkeiten gar nicht mehr in Kontakt bin.
Das ist eine mögliche Definition von Selbstvertrauen. Auf alle Erfahrungen und Anteile in sich zu vertrauen.
Flow
Ein Musiker, der im Vertrauen auf die Bühne gehen kann, dass alles in ihm ein bestimmtes Stück spielen kann, der kommt auf der Bühne beim Spielen des Stücks vielleicht in einen Flow. In einen Zustand, in dem das Bewußtsein sich komplett zurückgezogen hat. In dem nur noch der Augenblick existiert und er eins wird mit der Musik.
Solche Zustände, in denen unsere Identifikation mit dem Bewußten Ich verschwindet, sind im Großen wie im kleinen Glücksmomente, in denen wir aus der Enge unseres Bewußtseins treten, in die Weite des Augenblicks, und in die Weite unseres Unbewußten.
Und so scheint es, dass wir am meisten wir selbst sind, wenn sich unser Alltags-Ich im Augenblick auflöst.
Wie bei jedem Konzept der Weisheit enden wir im Paradox. Je mehr wir vom Ich begreifen, desto mehr löst es sich im Ganzen auf.
Doch das Paradox weist nie auf einen Widerspruch hin - sondern immer auf die Einheit. So bin ich gleichzeitig mehr und weniger als ich dachte.
Essenz der Achtsamkeit
Die Freiheit zu kriegen meine Aufmerksamkeit mehr und mehr dem zuzuwenden, was im Moment passiert, ohne das Gefühl zu haben, ich müsste meine Gedanken oder Gefühle mit meinem Bewusstsein lenken, beurteilen, kontrollieren, den Ton angeben - das ist die konstante Übung in der Achtsamkeit.
Wahrnehmen was ist.
Wenn ich bewußt in die Wahrnehmung des Augenblicks gehe - so wie er in mir und außerhalb von mir ist - ohne Erwartung, Ablehnung, Anhaftung oder Wertung - dann bin ich frei mit allem zu agieren, was in mir ist.
Je mehr ich meditiere, desto mehr wird es mir gelingen, mich mit mehr zu identifizieren als meinem engen Bewußtsein - desto mehr werde ich lernen mich weniger mit meinen Gedanken, Gefühlen, und meinen körperlichen Zuständen zu identifizieren. Zu sagen „das bin ich.“ Denn ich lerne Stück für Stück, dass das was ich bin weit darüber hinaus geht und nie verschwindet.
Ich habe Angst wird ersetzt durch - etwas in mir hat Angst. Der erste Satz ist allumfassend, der zweite Satz lässt Raum für alles andere, das gleichzeitig auch in mir existiert.
Je mehr es mir gelingt zu verinnerlichen, wie groß mein Ich zu jedem Zeitpunkt ist und wie klein mein Bewußtsein, desto näher komme ich dem wahren Ich.
Meine Gedanken brauchen mich nicht
Ich bin der, der denkt - das wäre wohl die spontane Definition, die vielen von uns einfallen würde, wenn wir schnell eine Antwort auf die Frage suchen müssten, wer wir sind.
Und tatsächlich - wir denken den ganzen Tag - ununterbrochen.
Aber wie oft nehmen wir das tatsächlich bewußt wahr?
Wenn wir es bewußt wahrnehmen, sagen wir „ich“ denke.
Aber „ich“ denke auch, wenn mir das nicht bewußt ist. Oder denke „ich“ dann nicht?
Mein Hirn kann denken und tut es auch den ganzen Tag.
Intuition
Wir alle kennen das, dass uns „auf einmal“ etwas klar geworden ist. Das ist ganz einfach der Zeitpunkt, an dem unser Gehirn - einem Computer gleich - auf einmal ein Ergebnis ausspuckt - einen schlüssigen Gedanken, der Vieles auf überraschend klare und einfache Art und Weise verbindet.
Unser Hirn tut das, wenn es merkt, dass unsere Aufmerksamkeit - unser Bewusstsein dafür bereit ist - weil es gerade sonst nicht beschäftigt ist. Daher kommen diese Erkenntnisse auch gern in Entspannungszuständen - in der Badewanne, liegend am See, aus dem Fenster schauend - und ganz oft, wenn wir meditieren - und damit die alltägliche Geschäftigkeit unseres Bewußtseins auf Diät setzen.
Zwischen dem Beginn der Aufgabenstellung und der Lösung hat das Hirn die ganze Zeit gedacht. Ohne dass "ich" dabei war, dass ich das mitbekommen habe. Ich mußte ja an dem Tag noch die Schuhe zur Reparatur bringen und die Steuer für den Monat machen. Habe „ich“ dann nicht gedacht?
Aber es hat nicht nur das Hirn an der Antwort auf die Frage gearbeitet, sondern alle Systeme in mir. Das was dann rauskommt in einer ruhigen Minute nennen wir gern Intuition. Intuition ist die Erkenntnis aus dem Sein im Gegensatz zur Erkenntnis aus dem Tun.
Alles funktioniert ein bisschen besser, wenn man es 10 Minuten aussteckt. Unser Bewusstsein auch. Denn es hört dann im ganzen Trubel des Alltags die Botschaften des Unbewussten - die Botschaften aus dem Sein. In der Meditation macht das Bewusstsein Platz für die eigene innere Weisheit.
Das führt mich zu einem ganz einfachen Schluß.
Offensichtlich brauchen mich meine Gedanken nicht. Oder anders gesagt - „ich“ bin nicht meine Gedanken. Meine Aufmerksamkeit kann nur in den Fluss der Gedanken eintauchen und wieder aus ihm auftauchen.
Bin "ich" der Beobachter?
Wenn ich bei der Meditation erfahre, dass mich meine Gedanken nicht brauchen, und „ich“ offensichtlich etwas ist, was außerhalb - oder parallel zu meinen Gedanken existiert, dann komme ich vielleicht auf den Gedanken mich mit dem zu identifizieren, der das alles beobachten kann. Zu sagen, ich bin der Beobachter.
Aber bin ich zur gleichen Zeit nicht auch meine Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen….?
Ich bin der Beobachter, mein Bewusstsein, mein Unbewußtes, mein Körper, meine Energie, meine Seele. Alles gleichzeitig. Je mehr von all dem in jedem Augenblick leben darf, desto mehr bin ich bei mir. Desto mehr bin ich ich.
Mein Bewußtsein bekommt in der Achtsamkeit eine Aufgabe - eine konstante Übung während der Meditation und im Alltag: Mit allen Sinnen den Augenblick wahrzunehmen - im Innen wie im Außen - ohne Wertung, ohne Abwehr, ohne Erwartungshaltung, und darauf zu vertrauen, dass alles in mir angemessen auf die Situation reagiert. Wenn ich zu diesem Selbstvertrauen eines weiten Bewusstseins finde, bin ich lebendig.
Meditation und Gedanken
Wie schaffe ich es regelmäßig zu meditieren - was mache ich mit meinen Gedanken und was mache ich mit meinen Gefühlen bei der Meditation?
Das sind die zentralen Themen die uns verfolgen, wenn wir versuchen einfach nur friedlich zu meditieren. Stattdessen denken wir obsessiv, unser Körper schmerzt, unsere Gefühle laufen Amok, und alles kann sehr unangenehm sein.
Dabei wollten wir durch Meditation doch eigentlich nur einen schönen - angenehmen, friedlichen Zustand erreichen.
Aber das ist nicht das Ziel von Meditation. Ziel von Meditation ist es, Stück für Stück durch Übung unsere Fähigkeit zu stärken, ohne Wertung, Erwartung und Urteil den Moment wahrzunehmen wie er ist, und dabei nach und nach die Identifikation des Ichs mit Anteilen in uns zu erweitern.
Spiritualität
Je weiter wir auf dem Weg der Achtsamkeit gehen, desto weiter wird unser Bewußtsein dafür was alles unser ich ausmacht. In der Weise wirken Achtsamkeit und Meditation bewusstseinserweiternd. Irgendwann geht es über den persönlichen Erfahrungsraum hinaus und verbindet sich mit allem was existiert. In einer Weise, die die Trennung meines Ichs vom Anderen vollständig aufhebt. Mein Ich wird dadurch allumfassend und gleichzeitig verschwindend klein. Ein Teil des Ganzen, in dem sich das Ganze spiegelt.
Der amerikanische Autor Charles Eisenstein drückt das in einem Satz sehr schön aus: "Es gibt eine andere Welt, und sie ist in uns."
Und wir sind in ihr.