Wer bin ich? Wie finde ich zu mir? Wie kann ich mich selber spüren, mir selber treu sein, gut mit mir umgehen?
Das sind ganz zentrale Fragen, die wir alle haben. Sie alle kreisen um das Selbst - um mein Verständnis davon, wer ich bin.
Aber was ist mein Selbst genau? Wie hängen Selbsterkenntnis, Selbstbewusstsein, Selbstwert, Selbstachtung, Selbstliebe, zusammen?
Durch dieses wichtige Thema möchte ich Schritt für Schritt führen. Daher widme ich dem "Selbst" eine kleine Serie, in der jeder Leser ein bißchen über sein eigenes Selbst reflektieren kann. Dabei möchte ich beleuchten, wie sich durch Achtsamkeit das Selbstbild verändert - hin zu einer Haltung sich selbst gegenüber, in der ich lerne mich Stück für Stück genau so anzunehmen und sein zu lassen wie ich gerade bin. Mit allen Gefühlen und Gedanken, die gerade präsent sind. Ohne Urteil und Wertung.
Gelingt diese Haltung, lerne ich auch gegenüber anderen zu mir, zu meinen Gefühlen und zu meinen Bedürfnissen stehen.
Wo sich die Beziehung zu mir selber ändert, ändert sich also auch die Beziehung zu anderen.
Den Anfang der Serie macht noch nicht die Achtsamkeit, sondern die Erkenntnisse der Psychologie und Hirnforschung über die erste Zeit in unserem Leben, in der wir interessanterweise noch gar kein Selbstbild haben.
Wir kommen ohne Selbst zur Welt
Diese Feststellung mag ein bißchen seltsam erscheinen, aber sie ist ein biologisches Faktum. Die sogenannten Selbstsysteme im Gehirn sind in den ersten zwei Lebensjahren noch nicht gebaut.
Ein Baby, das auf die Welt kommt, empfindet sich anfangs noch nicht als eigene Person, die getrennt ist von anderen. Es hat noch kein Konzept von sich selber - keinen Gedanken wie "ah, ich bin also so oder so ein Mensch." Es gibt noch keine Selbstreflexion.
Das primäre Bedürfnis des Babys ist Geborgenheit. Sicher gehalten zu werden, körperlich und emotional, zugehörig zu sein - denn diese Zugehörigkeit ist überlebenswichtig. Allein ist das Baby nicht überlebensfähig. In dieser frühen Zeit ist das Baby immer automatisch in den Gefühlen der Eltern oder engen Bezugspersonen. Es kann sich selber noch nicht unabhängig von anderen Menschen emotional regulieren. Sind Eltern oder Bezugspersonen gestresst, ist automatisch auch das Baby gestresst. Haben die Eltern Angst, fühlt das Baby Angst, ohne sich der Quelle bewusst zu sein. Die Gefühle des Babys existieren also in Resonanz mit den Gefühlen der Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung.
Das Baby ist ganz auf intensiven Kontakt angewiesen. Auf jemand, der ihm nah ist und der emotional mit ihm in Kontakt geht. Durch diesen engen Kontakt und die körperliche Nähe beginnt das Baby durch Imitation zu lernen. Dabei entstehen in jeder Sekunde Millionen neue Vernetzungen im Gehirn, durch die das Baby die Welt Stück für Stück über seine Sinne wahrnimmt und mit den Händen begreift. Alle Instinkte des Babys sind auf Lernen durch soziale Vernetzung ausgelegt - auf Erleben durch Resonanz in Beziehung und Imitation. Durch Spiegelung lernt das Baby auch differenzierte Gefühle kennen und verkörpern.
In dieser Zeit bedeutet Zugehörigkeit Sicherheit und Überleben. Findet Beziehung nicht statt, ist das für das Baby emotional und körperlich eine lebensbedrohende Situation. Ohne Kontakt spannt sich das Baby an, was ein großes Unwohlsein erzeugt und dazu führt, dass es sich dann lautstark in Erinnerung ruft, damit jemand kommt, es zu beruhigen.
Ruhen die Eltern in sich - verkörpern sie Gelassenheit und Entspannung, können Sie in sich Halt finden, fühlt sich auch das Baby bei Ihnen sicher und geborgen. Dann kann es entspannen und beruhigen.
Das Selbst entsteht
Im zweiten Lebensjahr entstehen im Gehirn die Areale, in denen die sogenannten Selbstsysteme beheimatet sind. Es entsteht also Stück für Stück eine Vorstellung und Empfindung von "Das bin ich" und "So bin ich."
Diese Vorstellung kommt alleinig aus der Resonanzerfahrung mit der Welt. Anders gesagt, "ich glaube so zu sein, wie die Welt auf mich reagiert."
Habe ich Eltern, die alle meine Bedürfnisse sehen und sich über meinen Selbstausdruck freuen, fühle ich mich nicht nur sicher - ich entwickle ein Selbstbild, mit dem ich mich als liebenswert empfinde. Es ist in Ordnung so zu sein wie ich bin. Mein Ausdruck und meine Gefühle dürfen sein. Wenn ich sie zeige, ist keine Gefahr damit verbunden.
Wachse ich so auf, dann lerne ich, daß ich mit mir selbst - mit dem was ich unmittelbar fühle, kongruent sein kann. Daß meine Gefühle und mein Ausdruck angemessen und willkommen sind.
Wenn ich dieses Glück habe, bleibe ich mit meinem wahren Selbst verbunden und gehe mit einem guten Selbstwert und voller Selbstvertrauen in die Welt. Ich erwarte dann, daß die Welt ein freundlicher Ort ist und gehe in soziale Situationen mit der Erwartungshaltung, daß ich so angenommen werde, wie ich bin.
Das "falsche" Selbst entsteht
Doch dieses Idealbild existiert in Familien nur selten. Ein Elternteil hält es nicht aus, wenn das Kind laut ist, der andere, wenn es andauernd etwas wissen will oder wenn es weint. Dann erlebt das Kind strafende oder sich entziehende Eltern. Sind die Eltern gestresst oder sind mit ihrer Aufmerksamkeit ständig im Computer, statt beim Kind, wird das Kind auch nicht gesehen.
Das Kind bezieht dieses "Nicht in Beziehung" gehen und das Urteil immer auf sich. Es gibt sich dafür immer selbst die Schuld und kommt zum Schluss: Mit mir stimmt etwas nicht. Ich bin lästig, ich bin böse, anmaßend, ich darf nicht wütend, ich darf nicht weinen, ich darf nicht fragen.
Niemand mag mich, wenn ich so bin wie ich bin. So wie ich bin, bin ich falsch. Sonst würden mich meine Eltern gernhaben, mich in den Arm nehmen und gern mit mir spielen.
Leider ist dieser Schluss unumgänglich. Das Kind braucht die Zugehörigkeit zu den Eltern. Im Konflikt zwischen Authentitizität und Zugehörigkeit muss das Kind seine Authentizität opfern.
Das heißt, es unterdrückt die Handlungen und Gefühle in sich, mit denen die Eltern in Konflikt kommen und verurteilt sich selbst dafür. So macht man die Erfahrung, daß man nicht um seiner Selbst willen geliebt wird, sondern dass Liebe und Zugehörigkeit an Bedingungen gebunden sind, die man erfüllen muss.
Wie viel ich von mir selbst in Beziehung aufgeben muss, um in Beziehung zu bleiben, bestimmt unseren Selbstwert und damit einen wesentlichen Teil unseres Lebensgefühls in Beziehung.
So entsteht ein falsches Selbst.
Der Verlust des wahren Selbst
Dort, wo das "falsche Selbst" entsteht, führt das leider Stück für Stück zu einem Verlust des "wahren Selbst". Der direkte Zugang zu meinen Gefühlen, zu meinem Erleben und zu meinem Ausdruck im jetzigen Moment geht verloren. Ich verurteile mich für die Gefühle und Persönlichkeitsanteile, die meine Zugehörigkeit gefährden. Ich werde gehemmt, zeige mich nicht mehr so wie ich bin und unterdrücke bestimmte Gefühle. Und das oft so lange, bis ich sie gar nicht mehr spüre.
Dadurch verlerne ich mich und meine Bedürfnisse im gegenwärtigen Moment zu spüren. Ich kann dem, wie es mir geht dann keinen spontanen Ausdruck mehr geben und verhalte mich so, daß ich nicht in Konflikt komme.
Dieses falsche Selbst wird zum "Ich", mit dem ich mich identifiziere. Die Verbindung zum wahren Selbst geht verloren, wenn ich in einer Umgebung aufwachse, in der ich es verstecken muss.
Persönlichkeit
Gemeinhin nennt man dieses falsche Ich Persönlichkeit. Der Kleine ist eben schüchtern oder draufgängerisch oder verstockt, bescheiden, still,......
Aus dieser Sicht ist Persönlichkeit so etwas wie eine schlechte Angewohnheit, die uns von unserem wahren Selbst trennt.
Die Urteile und Wertungen, die unsere Eltern über Teile von uns haben, übernehmen wir in unserer Persönlichkeit und verstecken diese Teile - damit wir weiterhin geliebt werden. Verstoßen wir dagegen, regeln Scham- und Schuldgefühle sofort unser Verhalten. Denn das schlechte Gewissen wacht sozusagen über unsere Zugehörigkeit.
Das Selbstbild und die zu ihm gehörigen Glaubenssätze werden zur Brille, durch die wir unsere Beziehungen erleben. So entstehen Beziehungsmuster, die uns immer wieder begegnen.
Wenn der Verrat des Selbst umfassend ist, verlieren wir tatsächlich das Gefühl dafür, wer wir eigentlich sind oder haben das schwammige Gefühl, daß wir uns selbst verloren haben - ohne genau zu wissen, wie oder wo wir uns wieder finden können.
Der Weg zum wahren Selbst durch Achtsamkeit
Achtsamkeit kann ein Weg sein, Stück für Stück wieder mit meinem wahren Selbst kongruent zu werden, mich selbst, meine eigenen Bedürfnisse und meinen eigenen Ausdruck wieder mit gutem Gewissen zuzulassen - vor mir selbst und vor anderen.
Dieser Weg hat viel mit Lebendigkeit, Lebensfreude, Kreativität und Entspannung zu tun. Zu unterdrücken wer man ist und wie man fühlt, kostet viel Energie und erzeugt ein enges und angespanntes Lebensgefühl.
Wie dieser Prozess mit Hilfe der Achtsamkeit funktioniert, dazu folgt mehr in Teil zwei dieser Reihe zum Selbst mit dem Titel "Wie finde ich mein wahres Selbst?"
Zeitgleich mit diesem Blog Eintrag veröffentliche ich auch eine Buchempfehlung im Blog. Das Buch heißt: "Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz."
Wer sich in das sehr spannende Thema der Entstehung des Selbst vertiefen möchte, wird in diesem Buch von Joachim Bauer unglaublich viel darüber lernen, was uns als Mensch ausmacht und wie Beziehungen unser Selbstbild prägen.
Die gute Nachricht ist - wenn Beziehungen ein falsches Selbst erzeugen können, können sie auch zum wahren Selbst zurückführen.
Achtsamkeit geht einen Weg, in dem ich Stück für Stück lerne mir selbst und anderen in einer Haltung zu begegnen, die zum wahren Selbst zurück führt - zum unmittelbaren Erleben im Augenblick - ohne Urteil und Wertung.
In Teil zwei der Serie geht die Reise zum Selbst weiter mit einem Einblick darin, wie die Achtsamkeit dazu beitragen kann, sich wieder mit dem wahren Selbst zu verbinden.
Veränderung ist aus dieser Sicht nicht die Idee ein anderer zu werden, sondern mehr von dem zu werden, wer ich wirklich bin.
Übung
Um sich selbst kennenzulernen und zu verstehen, ist es eine interessante Übung ein bißchen Zeit mit der eigenen Biografie zu verbringen und zurückzuschauen. Wie wurde ich durch meine Eltern und engen Bezugspersonen behandelt und zu welchem Selbstbild bin ich dadurch gekommen?
Wie sehe und beurteile ich mich? Welche Anteile in mir mag ich nicht? Welche Gefühle sind für mich tabu? Und wie steht das mit dem Erleben meiner Kindheit in Beziehung.
Bei diesen Fragen geht es darum, ein Stück "Selbst"erkenntnis zu gewinnen und ein Gefühl dafür zu bekommen, wie gut ich im Alltag dem Ausdruck geben kann was ich im Moment gerade fühle.
Gehe ich dabei gut mit mir um, oder verstecke ich meine wahren Gefühle und Bedürfnisse? Diese Frage ist ganz zentral. Wenn ich mit meinem falschen Selbst identifiziert bin, bin ich häufig in Konflikt mit mir selber und anderen, und gehe nicht gut mit mir um. Urteil und Wertung mir selbst gegenüber sind dann ausgeprägt.
Mit dieser "Selbst"erkenntnis geht es dann in Teil zwei dieser Serie weiter mit einer klaren Ausrichtung, wie ich die Beziehung zu meinem wahren Selbst wieder herstellen und lernen kann mir wieder treu zu sein.