Die Frage wie ich meine Grenzen schützen kann ist eine der zentralen Beziehungsfragen.
Wir können uns nur dann so zeigen wie wir sind, wenn wir uns sicher fühlen. Wenn wir das Vertrauen haben, daß wir unsere Grenzen schützen können. Wenn wir das Gefühl haben, daß wir uns nicht schützen können, zeigen wir uns nicht.
Uns nicht zeigen zu können ist immer ein Beziehungsverlust. Wir verlieren Beziehung zu uns selber, wenn wir uns nicht zeigen - und wir sind für den anderen nicht sichtbar.
Reaktionen auf Grenzverletzung
Wenn unsere Grenzen verletzt sind, kommen wir in Bedrängnis. Darauf haben wir meist eine von drei Reaktionen.
1) Wut
In dem Fall geht die Konfliktenergie nach außen. Wir befinden uns im Kampf. Wir werden wütend auf den anderen, fühlen uns ungerecht behandelt, und greifen den anderen mit Vorwürfen und Wertungen seines Verhaltens an. Denn jede Grenzverletzung erleben wir als sehr persönlich. Je lauter wir dabei werden, desto stärker ist die Grenze, die wir damit um uns herum ziehen.
In der Reaktion der Wut unterstellen wir dem anderen oft Motivationen, die er gar nicht hatte - wir sehen den anderen nicht. Daher wird Wut auch oft als blind bezeichnet.
Uns kommt vor, daß wir nur darauf hinweisen, daß wir verletzt wurden - das Gegenüber aber erlebt einen persönlichen Angriff, den er oft nicht genau zuordnen kann, und der im Gegenzug meist Vorwurf und Wertung auslöst.
Ein Wort gibt das andere - und wir finden uns im Handumdrehen in einem meist sehr persönlichen Streit wieder, in dem es um alles geht - nur nicht um die wirkliche Verletzung - um die tieferen eigenen Gefühle.
Die eigene Verletzlichkeit versteckt sich hinter der Wut.
In der Wut sind wir selber nicht in Kontakt mit unserer Verletzlichkeit - die Wut ist wie eine Drohgebärde, in der wir uns möglichst groß machen, um unsere Verletzlichkeit zu schützen. Wo immer Wut entsteht, liegt eine Verletzung dahinter. Doch weder wir noch unser Gegenüber sehen sie.
Solange die Verletzung, um die es geht nicht in den Blick kommt, endet der Konflikt nicht. Und so lange sind unsere Grenzen auch nicht gut geschützt.
Die zweite mögliche Reaktion auf die Verletzung von Grenzen:
2) Versteinerung und Depression
In dem Fall richtet sich die Konfliktenergie gegen uns.
Die Depression und Versteinerung hat ihren Ursprung dort in unserer Kindheit, wo ein Elternteil oder eine enge Bezugspersonen in Bezug auf bestimmte Themen so dominant waren, daß jede Erwiderung der eigenen Meinung gefühlt mit zu großer Gefahr verbunden war - vielleicht damit, daß der Kontakt vielleicht völlig verloren geht. Für ein Kind ist das eine potenziell lebensbedrohliche Situation, denn als Kind sind wir abhängig von unseren Eltern. In uns entsteht das Bild, daß wenn wir uns so zeigen wie wir sind, uns niemand mag. Also verstummen wir als Kind und versuchen uns unsichtbar zu machen. Wir zeigen nicht mehr wie es uns geht. Darin bleiben wir alleine.
Wir sind in solchen Situationen meist im höchsten Maße beschämt. Wir trauen uns auch nicht uns mit dieser Scham zu zeigen. Ertragen können wir die Situation oft dadurch, daß wir nichts mehr fühlen.
Überall dort wo wir in unserem Erwachsenenleben wieder in eine Situation kommen die uns ein eine gefühlt ähnliche Situation der Ohnmacht bringen, steht vor unserem inneren Auge wieder der unüberwindliche Elternteil.
Genau wie bei der Reaktion der Wut können wir unsere Verletzlichkeit nicht zeigen, weil wir von ihr abgeschnitten sind. Wir fühlen uns im höchsten Maß unlebendig - wie ins uns selbst begraben und abgeschnitten.
Wir ziehen uns aus der Beziehung zurück und sind für den anderen kein Gegenüber mehr - was wiederum zu großen Aggressionen beim Gegenüber führen kann. Gleichzeitig sind wir von unseren Gefühlen - auch von unserer Wut abgeschnitten, die keinen Ausdruck finden kann. Der Ausdruck dieser Gefühle ist tabu - und oft haben wir gar keinen Zugang zu diesem Gefühl mehr.
3) Flucht
Mancher hat sich angewöhnt immer wegzulaufen, sobald Konflikte auftauchen und seine Grenze verletzt wird. Das schafft sofort Erleichterung - Streßhormone werden abgebaut - doch auch diese Form unsere Grenzen zu schützen hat einen entscheidenden Nachteil - wir kommen auch mit ihr nicht in Beziehung. Wir bleiben alleine.
Weder Wut, Depression noch Flucht sind gute Wege im Umgang mit Konflikten und Grenzen. Alles in uns schreit "Nein", wenn unsere Grenzen verletzt werden. Und doch liegt der Schutz unserer Grenzen darin, daß wir lernen ja sagen können - und zwar zu uns selbst.
Grenzen ziehen mit einem Ja - Natürliche Abgrenzung
Der gute Schutz unserer Grenzen liegt darin zu erkennen, daß nicht jemand anderer die Macht hat unsere Grenzen zu verletzen, sondern wir die Verantwortung unsere Grenzen nicht verletzen zu lassen.
Wenn ich ein Ja zu mir finde wie ich bin, kann ich mich auch abgrenzen, denn ich stehe in großer Selbstverständlichkeit zu dem was für mich paßt, und was nicht. Ich verliere auch mein Urteil darüber, wenn es jemand anders sieht als ich. Das ist seine Wirklichkeit. Sie bedroht mich nicht mehr. Die beiden Wirklichkeiten stehen nebeneinander - sie dürfen beide sein. So wird durch das Ja auch ein Nein möglich, das mit dem Gegenüber, mit der Situation, und mit mir selber in Kontakt bleibt.
Wenn wir ja dazu sagen, daß es unser gutes Recht ist nicht zuzulassen daß wir verletzt werden, können wir uns mit genau dem Gefühl zeigen. Wir haben dann gegenüber dem anderen keinen Vorwurf. Wir ziehen uns nicht zurück und wir laufen nicht weg. Wir können uns mit dem Gefühl unserer Verletztheit zeigen. Und damit, daß wir diese Verletzung nicht zulassen können.
Wenn wir im Konflikt so reagieren können, bleiben wir in Kontakt - in Beziehung mit unserem Gegenüber. Wenn wir uns zugestehen unsere Gefühle der Verletztheit wirklich zu fühlen, und sich mit ihnen zu zeigen. Das ist der Weg dahin in Beziehung seine Grenzen selber zu achten. Im vollen Bewußtsein des eigenen Selbstwerts. Wenn ich so meine Grenzen vertreten kann, kann sie von außen niemand verletzen. So übernehme ich selber die Verantwortung für meine Grenzen.
Auf diese Weise kann ich zum anderen Nein sagen, weil ich zu mir selber ja sage. Ganz ohne Vorwurf - nur in der Abgrenzung. Wo das gelingt, kann man Konflikte lösen und gleichzeitig in Beziehung bleiben.
Unsere Gefühle fühlen
Die Lösung geht über das Ja zu sich selbst - oder genau genommen über das Ja zur eigenen Verletzlichkeit. Sowohl in der Wut, als auch in der Depression verlieren wir Beziehung und Kontakt zu uns selbst - nämlich zu den Gefühlen, die durch die Verletzung unserer Grenzen in uns ausgelöst werden.
Diese Gefühle von Trauer und Schmerz haben wir gelernt abzuspalten. Wir fürchten uns vor diesen Gefühlen. Oft sind sie geradezu tabu. Wir versuchen sie von uns fernzuhalten, in dem wir sie nicht spüren. Wir fühlen uns in ihnen klein und verletzlich - und das macht uns Angst. Doch genau das anzuerkennen ist lösend.
Wenn wir den Zugang zu diesen Gefühlen von Angst, Schmerz, Trauer, Ohnmacht,... in uns wieder zulassen - dann ist das der erste Schritt zur Lösung. Diese Gefühle gehören zu uns. Unsere Versuche sie zu unterdrücken machen sie nur größer - was noch mehr dazu führt, daß wir mit ihnen nichts zu tun haben wollen und Angst vor diesen Gefühlen bekommen. Wir haben die Vorstellung daß wir untergehen, wenn wir uns diesen Gefühlen in uns zuwenden.
Doch das Gegenteil ist der Fall. Der Weg ist, diese Gefühle nicht nur mit seinem Verstand zu fassen zu kriegen, sondern sie tatsächlich zu fühlen. Denn erst das Fühlen unserer Gefühle bringt in uns und unserem Körper ein Gefühl der Lösung.
Depression, Wut und Flucht sind drei Reaktionen, in denen wir unsere Verletzlichkeit nicht spüren müssen. In denen wir keinen Kontakt bekommen zu den Gefühlen von Trauer und Schmerz, die hinter der Wut, der Depression und der Flucht stehen.
Gefühlstagebuch
Die Übung besteht darin, dir nach einer Grenzverletzung in einem Tagebuch alle Gefühle von der Seele zu schreiben - und damit nicht aufzuhören bis du Kontakt damit aufnimmst was hinter der Wut oder der Depression steht. Bis du Kontakt mit deiner Verletzung aufnehmen kannst.
Jeder hat seine eigene Geschichte und jeder entdeckt hier für sich die Gefühle, die ganz persönlich zu ihm gehören. Die Lösung kommt, wenn wir lernen zu diesen Gefühlen ja zu sagen, in dem wir sie bedingungslos fühlen - auch wenn uns diese Vorstellung anfangs Angst macht.
Denn wenn wir diese Gefühle fühlen können, gehören sie wieder zu uns - sind sie nicht mehr tabu. Wir lernen Stück für Stück, daß wir uns mit ihnen zeigen können. Daß es sich lohnt uns mit ihnen zuzumuten. Und daß wir genau damit in Beziehung bleiben - sowohl zu uns, als auch zu unserem Gegenüber.
Wenn es in einem Konflikt einer Partei möglich ist sich in seiner Verletzlichkeit zu zeigen, ist das meist der Anfang der Lösung des Konflikts in Beziehung.